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() Enoch zu Guttenberg
"Ich habe Heimweh"

Er ist der Vater des Bundesverteidigungsministers, selbst international anerkannter Dirigent und seit über vierzig Jahren glühender Umweltschützer: Enoch Freiherr zu Guttenberg empfing Cicero auf seinem Schloss in Oberfranken. Zu einem Gespräch über die Schöpfung, über Musik und Glauben und den Abschied als Lebensgefühl.

Der Hausherr sitzt im roten Salon, tief in seinem Sessel versunken, die Beine in Cordhosen über die Lehne geschlagen, als das Telefon klingelt. Er springt auf und nimmt den Hörer ab. „Hey, schon zurück!“, ruft er froh. Gemurmel im Hörer, Enoch zu Guttenberg geht auf und ab, lacht und staunt, zwischendurch schaut er sehr ernst: „Toll, dass du gleich angerufen hast, freu mich so, dass du ganz wieder da bist, alles Liebe, Servus!“, sagt ein erleichterter Vater. Am Apparat war sein Sohn, der Verteidigungsminister, auf der Rückreise aus Afghanistan. Ein Satellit funkt aus dem Orbit der Tagespolitik zurück an die Basis, Schloss Guttenberg im Fränkischen, gelegen auf einem Bergsporn hoch über dem Dorf, umgeben von dichtem herbstlichem Laubwald. Der barocke Lebenswandel der Guttenbergs wird von dicken, mit Efeu bewachsenen, über 500 Jahre alten Mauern geschützt, die gleichzeitig bezeugen können, dass die Familiengeschichte immer schon das Gegenteil von Isolation war. Und die Grundsätze der Familie würden vielleicht nach einer Floskel klingen, hätten sie in ihren Mitgliedern nicht so greifbar Gestalt angenommen: „Das, was man für richtig hält, kompromisslos vertreten, nötigenfalls den Kopf dafür hinhalten, Verantwortung übernehmen“, sagt Enoch zu Guttenberg. Seinen Sohn hat dieses Prinzip zum Star im Berliner Kabinett gemacht. Seinen Großvater, der als Widerstandskämpfer gegen Hitler konspirative Verschwörertreffen in der verwinkelten Bibliothek des Schlosses abhielt, starb unter mysteriösen Umständen, dessen Bruder wurde erschossen. Sein Vater, Staatssekretär im Kanzleramt unter Kiesinger, bezahlte seine Kompromisslosigkeit mit einem Parteiausschlussverfahren. Und er, Enoch, heute weltberühmter Dirigent, hat sich vierzig Jahre lang zum Außenseiter gemacht, indem er für ein Anliegen ficht, das erst seit wenigen Jahren den ganzen Globus umtreibt: den Umweltschutz. Dafür hält der 63-jährige Mitgründer des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland vor seinen Konzerten immer wieder flammende Reden. Und dafür sitzt er jetzt mit einem Glas Wein am Kamin in Guttenberg, krault seinem ungarischen Jagdhund das Ohr und beantwortet unsere Fragen: Baron Guttenberg, Sie sind Dirigent, Manager, Großgrundbesitzer, Umweltschützer, man könnte sagen ein schwer zu kategorisierender Mensch… Es stimmt, den Leuten fällt es oft schwer, mich in eine Schublade zu stecken. Auf der einen Seite hat in meiner Generation die Familie unglaublichen wirtschaftlichen Erfolg gehabt, mein Vater hinterließ mir ein kaputtes, überschuldetes Kurbad, aus dem die Rhön-Klinikum AG entstand, dann mein musikalischer Weg, die Leute wussten nie, wie sie mich einzuordnen hatten. Wegen meiner Ansichten zur Umwelt hieß es selbst in der Aristokratie lange: „Den Enoch kann man nicht mit der Zange anfassen.“ Aber als man den wirtschaftlichen Erfolg dann an der Börse erkennen konnte und den musikalischen, indem man mich in der Glotze dirigieren sah, da saßen auf einmal dieselben Leute in der ersten Reihe im Konzert und haben mich auf die Jagd eingeladen. Wie kommt es, dass jemand wie Sie zum Umweltschützer wird? Ein ordentlicher Umweltschützer, wissen Sie, was das heute ist? Der Lobbyist unserer Kinder, deren Zukunft in Gefahr ist, sonst nichts. Aber mich hat es schon als kleiner Bub traumatisiert, was mit der Umwelt geschieht. Die Gegend hier bei uns war einmal wunderschön, ich habe die Natur schon immer wahnsinnig geliebt. Als hier auf einmal überall Straßen in die verwunschensten Täler gebaut wurden, war mir, als würde meine Seele zubetoniert. Wir hatten damals ein Weingut in der Pfalz, und ich weiß noch, wie plötzlich die römischen Weinbergsmauern und die gotischen Kapellen einfach zusammengeschoben wurden. Bäche wurden begradigt und asphaltiert, und es gab 20 dicke Ackerpferde, die innerhalb eines Jahres alle einen Kopf kürzer gemacht und von drei Maschinen ersetzt wurden. Das war ein Schock, den ich als Kind nicht verarbeitet habe. Ihr Sohn Karl-Theodor nennt Sie heute einen „bekennenden Apokalyptiker“, warum? Also, Heiner Müller hat einmal gesagt: Optimisten fehlt es an Information. Meine Frau mahnt immer, ich würde zu aggressiv klingen und so, als wüsste ich alleine, wie die Welt funktioniert. Aber ich beschäftige mich seit vierzig Jahren mit der Umweltproblematik, und wie dramatisch die Lage wirklich ist, haben bisher die wenigsten begriffen. Seit Jahrzehnten predigt die Wissenschaft den Klimawandel, aber noch 2006 haben die Leute einem den Vogel gezeigt, wenn man mit dem Thema kam. Erst seit dem UN-Klimabericht ist der Klimawandel überhaupt auf der Agenda. Ich fürchte, das ist viel zu spät. Weshalb so pessimistisch? Nehmen Sie doch das ganz nüchterne Zahlenwerk: Während die Menschheit davon spricht, mehr als zwei Grad Klimaerwärmung verhindern zu wollen, verdrängt sie, was die bereits existierenden 0,7 Grad Erwärmung unwiderruflich auslösen: Erstens das irreversible Abschmelzen der Grönlandkappen. Das wird in den nächsten 30 Jahren die Heimat von 1,4 Milliarden Menschen unter Wasser setzen. Und wenn die zu uns kommen, dann sicher nicht freundlich winkend mit dem Reisebus. Zweitens ist das Auftauen der Permafrostböden in Taiga und Tundra nicht mehr zu stoppen: Wenn das Methangas darunter in die Luft steigt, erwärmt sich das Klima nicht, es wird sich erhitzten! Und heute schon produzieren wir jeden Tag 30000 Hektar Wüste, jeden Tag verlieren wir 56 Millionen Tonnen fruchtbaren Boden, täglich sterben 100 bis 150 Arten aus, jährlich verlieren wir 13 Millionen Hektar Wald, die Lunge unseres Planeten. Und wir pumpen täglich weiterhin und unverdrossen 100 Millionen Liter Treibhausgas in die Atmosphäre, Tendenz steigend. Und zuletzt noch eine Zahl, die alle kennen, die aber niemanden interessiert: Jeden Tag sterben infolge unseres Umgangs mit dem Planeten 29000 Kinder. Da bin ich nicht apokalyptisch, das ist schon längst Apokalypse now! Und ich fürchte, gegen das, was an menschlichen Konflikten auf uns zukommt, war der Zweite Weltkrieg ein Spaziergang. Diese Überzeugung muss einem Vater von zwei kleinen Kindern doch den Schlaf rauben… Ehrlich gesagt liege ich nachts tatsächlich oft vor Sorge wach. Nicht meinetwegen. Ich lebe hier in Saus und Braus, ich habe einen Beruf, den ich heiß liebe, ich gehe jeden Tag reiten und wer weiß, wie lange ich das noch kann. Aber ich habe beklemmende Angst um die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder. Und eines Tages werden wir ihrer Generation erklären müssen, warum sie wegen unseres Lebensanspruchs zwei Schulden zahlen müssen, monetäre und die ihres verbrauchten Lebensraumes. Die Frage ist, ob sie später auch nur annähernd so auf diesem Planeten leben können, wie wir es heute tun. Jede Kuh bringt ihrem Kalb bei, wie man richtig lebt. Wir sind die einzige Art, die ihren Kindern beibringt, wie man nicht überlebt. Was müssten unsere Kinder denn lernen, um zu überleben? Das System Wachstum muss in seiner Endlichkeit von ihnen begriffen werden. Wir müssen lernen zu verzichten. Auf die absolute Mobilität zum Beispiel, auf die Idee, unter allen Umständen immer und sofort überall hinkommen zu wollen. Das ist doch kein zwingendes Menschenrecht! Und wir müssen zum Beispiel nicht außerhalb der Spargelzeit Spargel essen und so fort. Das Einzige was uns helfen kann, ist radikale Energieeffizienz. Aber dazu muss der Mensch aufhören, den Ernst der Lage zu verdrängen. Leider hat er das immer schon getan. Gibt uns die Geschichte der Menschheit, die bisher noch immer eine Lösung für scheinbar unlösbare Probleme gefunden hat, nicht trotz allem Grund zum Optimismus? Nein, jede Münze, die neu geschlagen wird, hat eine andere Seite. Ich erinnere mich zum Beispiel noch ganz genau, wie mein Vater sagte, der wunderbarste Abfall der Atombombe sei, dass wir Atomschiffe und Atomkraftwerke bauen können. Das war mir damals schon suspekt. Für mich ist heute noch jedes Atomkraftwerk eine schlafende Atombombe. Wenn ein Flugzeug abstürzt oder ein Atomreaktor eine Panne hat, wird immer gefragt: „Menschliches oder technisches Versagen?“ Dabei gibt es nur eine Antwort: Menschliches! Wir haben die Technik doch erfunden, und jetzt verstecken wir uns dahinter. Wir geben damit zu, dass Goethe mit seinem Hexenmeister vollkommen recht hatte, und die Geister, die wir riefen, nicht mehr beherrschbar sind. Haben Sie persönlich schon Konsequenzen gezogen und technisch umgerüstet? Das gesamte Schloss wird mit Energiesparlampen beleuchtet, auch wenn das Licht scheußlich ist. Und die gesamte Anlage mit allen Gebäuden wird mit Hackschnitzeln beheizt. Guttenberg ist heute weitgehend klimaneutral, und auf unserem Haus in Neubeuern habe ich ein Solardach. Autofahren muss ich leider immer noch, weil die Bahnverbindungen von hier so eine Frechheit sind. Aber auf der Autobahn bleibe ich eisern unter 130, und mein Audi fährt mit Gas. Aber wie lange ich dafür gebraucht habe! Ich als Geldsack kann es mir immerhin leisten mein Auto für viele tausend Euro auf Gas umzurüsten. Macht es ein Familienhintergrund wie Ihrer leichter, gegen den Strom zu denken und zu handeln? Uns wurde als Kindern schon beigebracht: Für seine Überzeugungen muss man zur Not auch sterben können. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, aber so wurde ich erzogen. Und wir, die sogenannten alten Familien, haben es insofern leichter, als wir unsere Generationen besser überblicken können. Aber das macht den Anspruch höher, und es ist doppelt so schlimm, diesem Anspruch nicht gerecht zu werden. Meine gesamte Familie war im Widerstand gegen Hitler, väterlicherseits und mütterlicherseits. Aber gleichzeitig gab es unter den Arbeitern viel mehr Widerständler als im Adel, nur reden die nicht so viel darüber wie wir. Dafür müssten wir Aristokraten uns eigentlich schämen. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn jemand, der um seinen Job bangen muss, seine Meinung frei sagt, ist das eine viel größere Leistung als wenn das jemand tut, der finanziell unabhängig ist wie wir. Mir wird oft gesagt, ich sei mutig, wenn ich meine Umweltreden halte. Was ist da mutig, mir nimmt ja niemand etwas. Der freie Geist der Familie hat sich offensichtlich vererbt. Ist es Ihnen auch gelungen, Ihren Kindern das Umweltbewusstsein weiterzugeben? Na ja, die haben ihr Leben lang nichts anderes gehört, die Armen. Mein Sohn Philipp sieht die Dinge heute fast genauso wie ich. Der Karl-Theodor auch, aber differenzierter und kritisch. Er gehört zu denen, die sagen, das kriegen wir in den Griff. Ich kann nur sagen: Gott gebe es. Ich bin leider überzeugt davon, dass er sich irrt, aber trotzdem froh, dass er so denkt. Ich habe nicht mehr die Kraft, so zu denken. Ich hoffe von Herzen, ihrer Generation gelingt es, das Ruder herumzureißen, aber ich sehe keinen Ansatz. Sehen Sie ihn denn irgendwo in der Politik, diesen Ansatz? Eine Vision, die Hoffnung macht? Erste Bausteine einer neuen Denkkultur? Sie merken an meinem langen Nachdenken, wie wenig da gerade passiert. Leider fehlt es uns an den großen Köpfen, die in der Öko-Problematik klare Meinungen haben, und diese auch philosophisch und wirtschaftspolitisch untermauern können. Selbst die Grünen waren nie wirklich perspektivisch. Wenn man sich deren Bundestagsreden anhört, versteht man, dass sie den meisten auf die Nerven gehen. Nein, von der Politik erwarte ich nicht viel, weil der Vier-Jahres-Rhythmus zu Klein-Klein zwingt und der Wähler die nötigen Zumutungen nicht zulässt. Auch die Kirche ist zu spät dran. In den vergangenen 40 Jahren bin ich mit dem Vorstand des BUND mit unseren Anliegen nicht nur erfolglos von Regierung zu Regierung gepilgert, sondern auch zu unserem jetzigen Papst. Ich ziehe meinen Hut vor ihm, aber als wir in den Achtzigern versucht haben, den damaligen Kardinal Ratzinger dazu zu bringen, sich mehr für die Schöpfung einzusetzen, sagte er uns nur: „Wir haben Galileo Galilei noch in den Knochen, wir wollen uns jetzt nicht auf etwas wie den Umweltschutz festlegen. Außerdem hat die Kirche mit Politik nichts zu tun.“ Wir sind tief deprimiert wieder abgezogen. Was genau verstehen Sie eigentlich unter der Schöpfung? Das ist ganz einfach. Der Geist des Abendlandes, mit allen positiven und negativen Seiten, basiert auf der Bibel. In der Schöpfungsgeschichte wird der Mensch nicht nur in den Garten Eden gesetzt, um ihn zu nutzen, sondern auch, um ihn zu bewahren. Das ist für mich eine Wahrheit, die ich nicht hinterfragen muss, denn wir sind von allen lebenden Gattungen diejenige, die am ehesten den Überblick hat. Der Mensch hat per se die Schöpfung als sein ökologisches Haus erkannt, in dem er existieren kann. Die Metapher stimmt aus christlicher wie agnostischer Sicht. Jetzt haben wir das Bild der Schlange, die den Menschen verführt den Apfel zu essen, indem sie behauptet, er würde dadurch wie Gott. Und der Mensch greift zum Apfel und verliert das Paradies. Worin besteht dann der Sündenfall der Menschheit? Zum Beispiel im Umgang mit der Kernenergie. Wir arbeiten mit den Bausteinen der Schöpfung. Und das stellt uns selbst infrage. Die Menschen, glaube ich, haben das Wissen darum, das Ende der Schöpfung zu sein, immer schon im Unterbewusstsein gehabt. Sonst gäbe es nicht das Bild vom Turmbau zu Babel oder der Sintflut, Sodom und Gomorrah oder der Apokalypse. Ob ich jetzt gläubig oder ungläubig bin, die Erfahrung ist die gleiche. Wir wissen ja, dass die Erde nicht in sieben Tagen erschaffen wurde, aber warum denn nicht in sieben Äonen? Das Verrückte ist, dass man erst seit Ende des vergangenen Jahrhunderts vom Urknall weiß, trotzdem beginnt zum Beispiel Haydn die Ouvertüre zur Schöpfung schon mit einem riesigen Krawumms. So wie es in der Bibel steht, so war es ja. Es hat zwar ein paar Jahrmillionen gedauert, aber es wurde tatsächlich alles aus dem Wasser geboren, das ist ja wissenschaftlich belegt. Jeder, der an die Bibel glaubt, ist doch auch ein Apokalyptiker. Dass diese Welt endlich ist, das hat die Bibel erzählt, und die Agnostiker haben es begriffen. Darum bin ich Umweltschützer. Ich will mich ja nicht nur wichtig machen. Das entnehme ich der Kunst, der Bibel, unserer Existenz. Ich sehe ja, wie wir handeln: Die Vernunft, die das alles verhindern könnte, die ist nicht da. Es heißt, Sie seien ein romtreuer Agnostiker, was muss man darunter verstehen? Ich gehe jeden Sonntag mit meinen Kindern in die Kirche, und wir beten jeden Abend mit ihnen, weil ich finde sie können erst für oder gegen etwas entscheiden, wenn sie es kennen. Ich liebe die alte, tridentinische Kirchenliturgie, und ich liebe das Evangelium. Es gibt keine schönere Religion als das Christentum mit seinem Gesetz der Liebe. Mein zweiter Schwiegervater war radikaler Kommunist, und wir haben darüber viel gestritten. Aber er hat immer gesagt: Wenn ihr die Bergpredigt wirklich leben würdet, ihr Christen, hätte es keinen Marx gebraucht. Und da ist viel dran. Doch mein Gehirn ist absolut atheistisch, ich müsste wirklich lügen, wenn ich sagen würde, ich könnte glauben. Sie glauben also nicht an die Existenz Gottes? Nein, die halte ich für völlig ausgeschlossen. Sollte es wirklich einen Gott geben, der liebend in die Welt eingreift und Gebete erhört, wäre der Umkehrschluss doch irre: Hat sich denn bitte die Mutter im Kosovo, die dafür betet, dass wenigstens einer ihrer fünf Söhne lebendig nach Hause kommt, und ertragen muss, dass er trotzdem stirbt, hat die sich denn mit Gott weniger gut gestellt als andere? Nein, ich kann nicht glauben, schon gleich nicht an das Leben nach dem Tod. Ich bin zu klein dafür. Wenn Sie zum einen glauben, dass die Menschheit langfristig untergeht, und zum anderen, dass es keinen Gott gibt, ist die Konsequenz unendlich deprimierend: Es gäbe dann kein Bewusstsein, in dem unsere Geschichte, alles Gedachte und Geschaffene, alle Liebe und alle Kunst aufgehoben sein wird. Es wird das alles de facto einmal nie gegeben haben. Ja, das ist für mich tatsächlich eine grauenhafte Vorstellung. Wozu dann überhaupt noch dieses Leben? Ich hänge nicht an diesem Leben, auch wenn ich jetzt ungern sterben würde, weil ich meine Familie so liebe und Angst hätte, schwer zu sterben. Aber es ist wahr: Ich bin auf der Sonnenseite der Titanic geboren, und trotzdem ein schwermütiger Nihilist. Meine Lebenserfahrung besteht darin, Abschied nehmen zu müssen. Nicht nur von Menschen. Ich habe Abschied genommen von den Jahreszeiten, keinen echten Winter mehr, kein echtes Frühjahr, ruinierte Landschaften, Abschied von der alten Kirchenliturgie, Abschied von unserer Kultur, Abschied von den Dialekten, von menschlichen Originalen, man wird immer heimatloser. Und ich habe Heimweh, sogar wenn ich hier in Guttenberg sitze. Obwohl ich Guttenberg ja liebe. Ich würde es nicht ertragen, wenn das hier kaputtginge, ich habe gekämpft, um das alles zu erhalten. Am schlimmsten aber ist für mich der Abschied vom eigenen Glauben. Darunter leide ich täglich. Wenn heute eine Fee käme, ich würde mir als Erstes wünschen, wieder so glauben zu können, wie ich es als Kind, sogar noch als junger Dirigent getan habe. Wie dirigieren Sie ein Requiem oder die Matthäuspassion, wenn Sie nicht mehr glauben können? Ja, das ist das Erstaunliche: Die Kunst ist der Ort, an dem ich das alles wiederfinde. Wenn ich die Matthäuspassion dirigiere, dann hab ich vom ersten Ton an auf einmal überhaupt keine Zweifel mehr. Und mit dem letzten Ton ist alles wieder weg. Dann gehe ich raus, hänge den Frack an den Haken und bin verzweifelt, weil ich das Gefühl habe, ein Sprachrohr gewesen zu sein für etwas, das mir abhandengekommen ist. Und wenn Kritiker mich dann als Bekenntnismusiker bezeichnen, komme ich mir vor wie ein Verräter. Aber ich weiß und erlebe, dass meine Musik auch für andere diese Funktion hat. Das kann man dann aufreißen und sich in der Musik mit dem Glauben wiederfinden. Deshalb wehre ich mich gegen Kollegen, die Musik nur als großes Kunstwerk begreifen. Musik, die mich nicht bewegt, kann ich nicht dirigieren. Eine große Mahler-Sinfonie, oder Bruckner, diese zerrissene Person, die diese irre Musik gemacht hat, da weiß ich, was er erzählt, weil es mir genauso geht. Das will ich den Menschen vermitteln. Ein wunderbarer Kunstbegriff… Mir fällt dazu gerade noch etwas auf. Es steht doch in der Genesis: Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild. Da habe ich mir oft gedacht, was muss das für ein armseliger Gott sein, wenn Typen wie wir nach seinem Abbild geschaffen sind. Wir sind die schlimmste Art von allen. Schlimmer als Wölfe, kein Viech ist so schlimm wie wir. Kein Viech frisst über seinen Hunger. Das Bedürfnis, warum wir die Welt kaputtmachen, ist ja nicht der Hunger. Wir lassen andere hungern, damit es uns so gut geht. Wenn der liebe Gott so wäre wie wir, dann kann das nicht stimmen. Wir sind die grausamsten von allen, auch die frömmsten von uns. Also was ist davon noch Abbild? Haben Sie für sich eine Antwort gefunden? Ja – einmal die Fähigkeit zur Selbstaufgabe in der Liebe; zum anderen: Kein Viech kann dichten oder ein Musikstück schreiben. Das können nur wir. Darin sind wir Gottes Abbild. Wir können die Kunst der Fuge, wir können eine sixtinische Kapelle, wir können den Faust. Wir können Welten bauen und kleine Schöpfungen vollbringen. Und ich darf als kleiner Dirigent in diese Welt mit jeder Probe einsteigen. Das Wunder, dass so ein Ding (Guttenberg greift sich eine Partitur und wedelt damit in der Luft) klingt, wenn ich es aufmache! Das ist doch ein Hammer. Darum mache ich Kunst. Das Gespräch führte Constantin Magnis.

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