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() Hitler empfängt mit Reichsaußenminister von Ribbentrop (links) den serbischen Ministerpräsidenten
Hitlers braune Diplomaten

Entgegen den Legenden war das Auswärtige Amt kein Hort des Widerstands, keine Insel des Anstands inmitten der Barbarei, sondern eine wichtige Stütze des NS-Regimes.

Anfang Februar 2005 geschah etwas in der Geschichte des Auswärtigen Amtes Einmaliges: 128 pensionierte Diplomaten probten den Aufstand gegen den Minister Joschka Fischer. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schalteten sie eine großformatige Todesanzeige für den verstorbenen Kollegen Franz Krapf, einst Mitglied der NSDAP und der SS, der es in der Bundesrepublik bis zum Botschafter in Tokio und Leiter der ständigen Vertretung bei der Nato gebracht hatte. Sie protestierten damit gegen einen Nachruferlass Fischers, der verfügt hatte, dass ehemaligen Amtsangehörigen, die Mitglieder der Nazipartei gewesen waren, kein „ehrendes Andenken“ in einer amtsinternen Zeitschrift mehr zuteil werden sollte. Mit ihrem aufsehenerregenden Schritt lösten die Exdiplomaten eine ganz unbeabsichtigte Reaktion aus. Denn nun entschloss sich der Außenminister, in die geschichtspolitische Offensive zu gehen und endlich in Angriff zu nehmen, was alle seine Vorgänger bislang versäumt hatten: die Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Nachgeschichte in der Bundesrepublik von einer unabhängigen Historikerkommission untersuchen zu lassen. Vier Jahre nach Beginn ihrer Arbeit legt die Kommission nun ihren Abschlussbericht in Gestalt eines fast 900 Seiten starken Buches vor (Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/ Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik; Blessing-Verlag, München 2010; 880 Seiten, 34,95 Euro). Die vier Historiker – die Deutschen Eckart Conze (Marburg) und Norbert Frei (Jena), der Amerikaner Peter Hayes und der Israeli Moshe Zimmermann – mitsamt ihrem zwölfköpfigen Mitarbeiterteam haben Erstaunliches geleistet. Sie haben nicht nur die Bestände im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, darunter die jahrzehntelang unter Verschluss gehaltenen Personalakten, ausgewertet, sondern darüber hinaus in zahlreichen nationalen und internationalen Archiven geforscht. Bei der Interpretation des riesigen Materials sind sie mit großer wissenschaftlicher Akribie zu Werke gegangen. Ohne anklägerischen Gestus, nüchtern und differenziert wird die Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich analysiert. Vom sorgfältig gepflegten Selbstbild, wonach man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Anfechtungen des Nationalsozialismus wacker getrotzt habe, bleibt so gut wie nichts übrig. Das Auswärtige Amt war kein Hort hinhaltenden Widerstands, keine Insel des Anstands inmitten der braunen Barbarei, sondern eine wichtige Stütze des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats – und dies von Anfang an. So ganz überraschend kommt das Ergebnis nicht. Bereits 1978 hatte der amerikanische Historiker Christopher Browning eine Pionierstudie über das berüchtigte „Judenreferat“ des Amtes, das Referat D III der Abteilung Deutschland, unter dem Titel „The Final Solution and the German Foreign Office“ veröffentlicht. (Sie ist erst jetzt, mit 32-jähriger Verspätung ins Deutsche übersetzt worden.) 1987 folgte die Doktorarbeit von Hans-Jürgen Döscher „Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ‚Endlösung‘“, der sich acht Jahre später eine weitere Untersuchung des Autors über die „Verschworene Gesellschaft, eine Geschichte des Amtes nach 1945 zwischen Neubeginn und Kontinuität“ anschloss. Doch die Forschungen Brownings und Döschers stießen nicht nur unter den Diplomaten auf Skepsis und Abwehr; sie hinterließen auch in der Öffentlichkeit keine nachhaltigen Spuren. Bezeichnend war, dass der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg im Bunde mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Buch Döschers von 1987 in der Zeit als unseriös niedermachen durfte – das alte Netzwerk funktionierte auch noch vier Jahrzehnte nach dem Wilhelmstraßenprozess, in dem Ribbentrops Staatssekretär Ernst von Weizsäcker der Hauptangeklagte gewesen war. Nach Eschenburgs Tod stellte sich heraus, dass er vorübergehend Mitglied einer SS-Unterorganisation war. Gegenüber den Arbeiten von Browning und Döscher bietet das Werk der Historikerkommission einige beachtliche Vorzüge: Es ist insgesamt breiter angelegt, behandelt nicht nur die braune Vergangenheit des Auswärtigen Amtes selbst, sondern im noch umfangreicheren zweiten Teil den Umgang des Amtes mit eben dieser Vergangenheit. Und es ist außerordentlich klar und pointiert geschrieben, sodass es auch über den engeren Kreis der Fachgelehrten hinaus Aufmerksamkeit finden kann. Was bislang fehlte, eine aus den Quellen gearbeitete, alle Aspekte integrierende, gut lesbare Gesamtdarstellung, liegt nun vor. Bereits im ersten Kapitel (Das Auswärtige Amt und die Errichtung der Diktatur) wird deutlich: Es bedurfte keinerlei Drucks, um die Angehörigen der Wilhelmstraße nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auf Linie zu bringen; vielmehr stellten sie sich vom ersten Tage an freiwillig in den Dienst der neuen Herren. „Seit dem 30. Januar 1933 war das Auswärtige Amt das Auswärtige Amt des Dritten Reiches, und als solches funktionierte es bis 1945“, lautet der Befund. Mit großem Eifer widmeten sich die Spitzendiplomaten der Aufgabe, die unmittelbar nach Hitlers Machteroberung einsetzende Entrechtung und Verfolgung der Juden gegenüber dem Ausland zu bagatellisieren und zu rechtfertigen. „Die antijüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leibe verspürt“, bemerkte der Gesandte in Oslo, Ernst von Weizsäcker, zum Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Der einzige hohe Beamte im Auswärtigen Amt, der im Frühjahr 1933 den Dienst quittierte, weil er das neue Regime nicht mittragen wollte, war der Botschafter in Washington, Friedrich von Prittwitz und Gaffron. Schon vor dem Kriege entwickelte sich ein reger Informationsaustausch zwischen dem Amtssitz in der Wilhelmstraße und der nur wenige Hundert Meter entfernten Gestapo-Zentrale. Bei der Überwachung der deutschen Emigranten halfen die Auslandsmissionen fleißig mit. Und auch bei der Ausbürgerung von Deutschen ergriff das Auswärtige Amt nicht selten selbst die Initiative, so im Falle Thomas Manns im Mai 1936. Vorausgegangen war unter anderem eine die Ausbürgerung befürwortende Stellungnahme Ernst von Weizäckers, inzwischen Gesandter in Bern, der dem Schriftsteller vorwarf, den „bisherigen Langmut der deutschen Behörden gegenüber seiner Person mit höhnischen Bemerkungen bedacht“ und damit den Tatbestand der „feindseligen Propaganda gegen das Reich im Ausland“ erfüllt zu haben. Dass sich das Auswärtige Amt so reibungslos in den Repressions- und Gewaltapparat des Regimes einfügte, führen die Autoren zum einen zurück auf eine aus dem Kaiserreich tradierte Mentalität, in der sich ein ausgesprochener Korpsgeist und ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft mit antidemokratischen und antisemitischen Einstellungen verbanden; zum anderen auf eine weitgehende Identität der außenpolitischen Zielsetzungen. Dass der Versailler Vertrag so rasch wie möglich beseitigt, das Deutsche Reich wieder zur Groß- und Weltmacht aufsteigen müsse, darin waren sich die Spitzendiplomaten, ebenso übrigens wie die führenden Militärs, mit Hitler einig. Bei der Umsetzung seiner Revisionspolitik war die Unterstützung des Auswärtigen Amtes für den Diktator unverzichtbar, weil sie half, die Westmächte zu beruhigen und sie über seine weiter gehenden expansionistischen Pläne zu täuschen. Entschieden widersprechen die Autoren der Behauptung, das Amt sei schon bald durch NS-Karrieristen usurpiert worden. Die personelle Homogenität der altgedienten diplomatischen Elite blieb nach 1933 im Wesentlichen gewahrt. Auch die Ablösung des durchaus willfährigen Außenministers Constantin von Neurath durch den Hitler-Höfling Joachim von Ribbentrop im Februar 1938 bedeutete, wie nachgewiesen wird, in dieser Hinsicht keine einschneidende Zäsur. Die Schlüsselpositionen besetzten weiterhin die Berufsdiplomaten. Den zweitwichtigsten Posten des Staatssekretärs übernahm Ernst von Weizsäcker. Über Weizsäckers Rolle unter Ribbentrop ist viel gerätselt worden. Er selbst hat in seinen Erinnerungen (erschienen 1950, ein Jahr vor seinem Tod) erklärt, sich zu der neuen Aufgabe nicht gedrängt zu haben. Schließlich habe er jedoch das „Kreuz“ auf sich genommen, um Schlimmeres zu verhüten. Der Eintritt in die NSDAP und die gleichzeitige Aufnahme in die SS im Rang eines Oberführers sei das „Opfer“ gewesen, das im Interesse der großen Sache, „den Frieden zu bewahren“, hätte gebracht werden müssen. Der Bericht der Kommission stellt die Motivation Weizsäckers nicht in Abrede, korrigiert dessen Darstellung jedoch in zwei Punkten: Zum einen macht er darauf aufmerksam, dass die Diplomaten, wenn sie es wollten, einer Aufnahme in die SS durchaus entgehen konnten. Zum anderen weist er darauf hin, dass es Weizsäcker nicht grundsätzlich um die Bewahrung des Friedens gegangen sei, sondern um die Verhinderung eines großen Krieges, der den Bestand des Reiches selbst aufs Spiel setzen konnte – ein feiner, aber nicht ganz unwichtiger Unterschied. Dabei habe der Staatssekretär allerdings seine Möglichkeiten, über Ribbentrop die Richtung der Außenpolitik mitzubestimmen, überschätzt. Für die Autoren verkörpert Weizsäcker das Dilemma eines Spitzendiplomaten, der glaubte, mitmachen zu müssen, um mitgestalten zu können – und der sich dabei immer tiefer in die Gewaltpolitik des Regimes verstrickte. Als im Sommer 1939 alle Initiativen Weizsäckers, den militärischen Konflikt zu vermeiden, an Hitlers unbedingtem Kriegswillen gescheitert waren, zog er keine Konsequenz, sondern blieb auf seinem Posten. Das wäre ja gerade so gewesen, rechtfertigte er sich im September 1945, „als ob auf einem Schiff in Seenot die Mannschaft unter Deck geht, wenn sie merkt, dass der Kapitän ein Irrer ist!“ Ein „widersinniges Dienstverständnis“ – so der Bericht –, denn tatsächlich befand sich das Großdeutsche Reich im Sommer 1939 keineswegs „in Seenot“, sondern war drauf und dran, Europa seiner Herrschaft zu unterwerfen. Zu Recht betonen die Autoren, dass der Krieg nicht erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, sondern bereits mit dem Angriff auf Polen im September 1939 ein rassistischer Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug war. Die Frage, ob und in welcher Weise das Auswärtige Amt an den während des Krieges verübten monströsen Verbrechen beteiligt war, bildet einen Schwerpunkt der Untersuchung. Das Urteil lässt wiederum an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Das Amt war von Anfang an über die barbarischen Methoden der deutschen Kriegführung und den verbrecherischen Charakter der deutschen Besatzungspolitik umfassend informiert. Über das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen war man ebenso im Bilde wie über die Vernichtung der europäischen Juden. Die Berichte über die Tätigkeit der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD in der Sowjetunion, die keinen Zweifel am systematischen Charakter der Massenmorde zuließen, gingen auch im Auswärtigen Amt ein, wurden dort zusammengefasst und von Staatssekretär Weizsäcker und Unterstaatssekretär Ernst Woermann abgezeichnet. Auf der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, die der Koordination der Behörden beim Vollzug des Holocaust dienen sollte, war das Auswärtige Amt mit Unterstaatssekretär Martin Luther vertreten. Das nach Kriegsende einzige aufgefundene Exemplar des Konferenzprotokolls wurde 1947 in den Akten des Auswärtigen Amtes entdeckt. Angehörige des Auswärtigen Amtes waren jedoch nicht nur Mitwisser, sondern auch Mittäter. „Je mehr Territorien in den Machtbereich des Dritten Reiches gerieten, je radikaler die Judenpolitik wurde, desto stärker war auch das Auswärtige Amt mit der Planung und Politik der ‚Endlösung‘ befasst“, konstatiert der Bericht. Deutsche Diplomaten erwiesen sich als willfährige Helfer des Reichssicherheitshauptamts. Vielerorts waren sie an den Deportationen von Juden beteiligt, manchmal ergriffen sie auch die Initiative. Und sie sorgten durch Propaganda im Ausland dafür, dass die zirkulierenden Gerüchte über den Massenmord als „Gräuelmärchen“ abgewehrt werden konnten. Weizsäcker wurde, wie gezeigt wird, zum Mittäter, auch wenn er dies zu verschleiern suchte. So nahm er am Entwurf eines Antwortschreibens von Franz Rademacher, dem Leiter des „Judenreferats“, an SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vom März 1942, mit dem das Auswärtige Amt der Deportation von 6000 französischen Juden nach Auschwitz zustimmte, eine charakteristische Änderung vor: Hieß es ursprünglich, es bestünden „keine Bedenken“ gegen die geplante Aktion, lautete die korrigierte Fassung, seitens des Auswärtigen Amtes werde „kein Einspruch“ erhoben. Und als der Gesandte in Bratislava, SA-Obergruppenführer Hanns Elard Ludin, im Juni 1942 meldete, dass die Deportation der slowakischen Juden weitgehend zum Erliegen gekommen sei, wies Weizsäcker ihn an, dem slowakischen Staatspräsidenten Jozef Tiso mitzuteilen, dass dies in Deutschland „einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen“ habe, schwächte dann aber die Formulierung ab: Die Einstellung der Aussiedlungen würde in Deutschland „überraschen“. Allerdings hüten sich die Historiker vor Pauschalurteilen. Für jedes der von Nazideutschland besetzten oder mit ihm verbündeten Länder Europas wird im Detail untersucht, wie die Vertreter des Auswärtigen Amtes agierten und reagierten. Dabei wird ein breites Spektrum von Verhaltensweisen deutlich – von vorauseilendem Gehorsam über routiniert bürokratische Abwicklung bis hin zu bloßem Gewährenlassen. Versuche, Juden zu retten, wie sie ein Mitarbeiter an der ungarischen Botschaft, der Diplomat Gerhart Feine, 1944 unternahm, blieben die Ausnahme. Auch in der Berliner Zentrale des Auswärtigen Amtes kann nach den Erkenntnissen der Kommission von einer nennenswerten Opposition nicht die Rede sein. Der Kreis um Weizsäcker löste sich 1940/41 weitgehend auf; der Staatssekretär wurde 1943 auf eigenen Wunsch als Botschafter an den Vatikan versetzt. Einzig an der Peripherie des Amtes, in der Informationsabteilung, sammelte sich im Krieg ein kleiner Zirkel von Hitler-Gegnern um Adam von Trott zu Solz und Bernd von Haeften. Beide gehörten dem Kreisauer Kreis um Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg an, der Schwerpunkt ihres Widerstands lag also außerhalb des Amtes. Beide waren an den Vorbereitungen des 20. Juli 1944 beteiligt und wurden nach dem Scheitern des Staatsstreichs hingerichtet. Wie gingen die Diplomaten nach 1945 mit ihrer Vergangenheit um? Eine Schlüsselrolle weist der Bericht dem Wilhelmstraßenprozess 1948/49 zu. In dem „Nürnberger Nachfolgeprozess“ fanden sich acht ehemalige Angehörige des Auswärtigen Amtes, an ihrer Spitze Ernst von Weizsäcker, auf der Anklagebank wieder. Die Verteidigung Weizsäckers übernahm der junge Anwalt Hellmut Becker, ein Sohn des 1933 verstorbenen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker. (Nach Hellmut Beckers Tod im Jahr 1993 stellte sich heraus, dass er 1937 in die NSDAP eingetreten war.) Assistiert wurde er von Weizsäckers jüngerem Sohn Richard, der zu diesem Zweck sein Jurastudium in Göttingen unterbrach. Erstmals wird hier geschildert, wie es der Verteidigung gelang, den großen Kreis der ehemaligen Mitarbeiter des Amtes dazu zu bewegen, sich für den Angeklagten ins Zeug zu legen und ihn durch beglaubigte Aussagen von allen Vorwürfen zu entlasten. Parallel dazu wurde eine Hetzkampagne gegen den amerikanischen Ankläger Robert M. W. Kempner organisiert, die zweifellos zu den beschämendsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Kempner, ein ehemaliger Mitarbeiter im Preußischen Innenministerium, der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen worden war und sich später ins amerikanische Exil hatte flüchten können, wurde als „Dr. Sixtus Beckmesser“, als „Kempner-Freisler“ und „Talmi-Amerikaner“ diffamiert; selbst vor antisemitischen Stereotypen schreckte man nicht zurück. „Bannerträger des Kampfes gegen Kempner“ war, wie Richard von Weizsäcker im November 1949 zutreffend feststellte, die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Ihr Chefredakteur Richard Tüngel versah noch im September 1951 einen Artikel gegen den ehemaligen Ankläger mit der Überschrift: „Einem Schädling muss das Handwerk gelegt werden“, und forderte den amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy auf, den Mann des Landes zu verweisen. Noch in seinen 1983 veröffentlichten Erinnerungen hat sich Kempner darüber empört, dass „die feinen Herren aus dem Auswärtigen Amt mit den blutgesprenkelten weißen Westen“ mit so milden Strafen davongekommen waren. Weizsäcker wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, schon im Dezember 1949 wurde die Strafe auf fünf Jahre verkürzt. Im Oktober 1950 wurde er vorzeitig entlassen. Er profitierte, wie auch andere Verurteilte, vom veränderten weltpolitischen Klima. Der Kalte Krieg ließ es den alliierten Besatzungsmächten geraten erscheinen, das Kapitel der „Entnazifizierung“ rasch abzuschließen, um den neuen westdeutschen Staat und mit ihm die alten Funktionseliten als Partner in der Konfrontation mit der Sowjetunion zu gewinnen. „Nürnberg“, heißt es im Bericht, „war unzeitgemäß geworden.“ Im Kapitel Arbeit am Mythos kann man nun die ehemaligen Angehörigen der Wilhelmstraße beim Verfertigen ihres apologetischen Selbstbilds besichtigen. Ein Schlüsseldokument der früh einsetzenden amtsinternen Mythenbildung war eine Aufzeichnung des früheren Vortragenden Legationsrats Wilhelm Melchers vom Februar 1946. Darin wertete er nicht nur den Weizsäcker-Kreis zu einer Keimzelle der Verschwörung vom 20. Juli auf, sondern bescheinigte dem Amt insgesamt, ein Wort des hingerichteten Widerständlers von Trott zu Solz aufgreifend, im Kern „gesund“ geblieben zu sein. Auf dieser Grundlage verständigte man sich nun auf eine gemeinsame Abwehrlinie: Auf dem Posten geblieben zu sein, war demnach keineswegs verwerflich, sondern eine politisch und moralisch gebotene Haltung, um das NS-System von innen heraus bekämpfen zu können. Die eigene Beteiligung an der verbrecherischen Politik wurde flugs umgedeutet in einen Heroismus des Ausharrens. Dazu passte die Behauptung, die Wilhelmstraße habe im „Dritten Reich“ in Wirklichkeit aus zwei Ämtern bestanden: einem „anständig“ gebliebenen um die alte diplomatische Elite auf der einen und einem „unanständigen“ mit den nationalsozialistischen Parvenüs auf der anderen Seite. Die Legende diente erkennbar dem Zweck, eine anschlussfähige Tradition herzustellen, die den beruflichen Wiedereinstieg erleichtern sollte. Dennoch überrascht, wenn man liest, wie problemlos es den Wilhelmstraßen-Diplomaten in den fünfziger Jahren gelang, im neu gegründeten Auswärtigen Amt wieder Fuß zu fassen. Dabei hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer zunächst darauf bestanden, dass das neue Amt „mit den alten Leuten möglichst wenig zu tun“ haben sollte. Doch unter seinem Intimus Herbert Blankenhorn wurde die Frage der politischen Belastung früherer Beamter hinter dem Gesichtspunkt ihrer fachlichen Qualifikation zurückgestellt. Und Adenauer ließ es geschehen, ja forderte selbst bald, nicht zuletzt im Blick auf seinen ins NS-Regime tief verstrickten Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, mit der „Naziriecherei“ endlich Schluss zu machen. Dank der alten Seilschaften wurden gerade die hohen Positionen wieder mit den „Ehemaligen“ besetzt. Die Schatten der Vergangenheit haben die Geschichte des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik begleitet. Bis in die siebziger Jahre wurde die Öffentlichkeit immer wieder aufgestört durch Skandale um die NS-Belastung führender westdeutscher Diplomaten. Zum Teil wurden sie befeuert von Publikationen aus der DDR, die zwar, was die Fakten betraf, zumeist zuverlässig waren, aber im Klima des Kalten Krieges den Belasteten eher zugutekamen, weil sie als kommunistische Propaganda abgetan werden konnten. Der Bericht der Kommission handelt jedoch nicht nur von Kontinuitäten, sondern auch von Neuerungen, die das Gesicht des Auswärtigen Dienstes im Laufe der Jahrzehnte veränderten. Die jungen Diplomaten, die allmählich nachrückten, stammten in der Regel nicht mehr aus den adligen und großbürgerlichen Kreisen, aus denen sich das alte diplomatische Korps rekrutiert hatte. Viele von ihnen hatten in Gastaufenthalten in den USA die Vorzüge einer freiheitlich-liberalen Ordnung kennen- und schätzen gelernt. Aber auch unter den „Ehemaligen“ wuchs mit der erfolgreichen Westbindung der Bundesrepublik die Bereitschaft zur Revision ihrer alten außenpolitischen Denkmuster. Anstelle der Orientierung am Primat des nationalen Machtstaats trat das Bekenntnis zur europäischen Integration und zur internationalen Kooperation. Dieser Wandel war verbunden mit einem neuen diplomatischen Stil der Zurückhaltung, der wesentlich dazu beitrug, dass die Bundesrepublik als gleichberechtigtes und anerkanntes Mitglied in die Staatengemeinschaft zurückkehren konnte. Was sich in all den Jahren nicht änderte, war das tradierte Selbstbild des Auswärtigen Amtes über die eigene Rolle im Nationalsozialismus. Diesem Selbstbild ist nun durch die Arbeit der Historikerkommission endgültig die Grundlage entzogen worden, und das kann man nicht genug rühmen. Das Werk sollte zur Pflichtlektüre für alle angehenden Diplomaten werden. Und es wäre zu begrüßen, wenn auch andere Bundesministerien die Kraft fänden, ihre Vergangenheit in ähnlich schonungsloser Weise durchleuchten zu lassen.

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