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(picture alliance) Keiner, der sich in Schubladen stecken lässt: Joachim Gauck

Das Netz und der Bundespräsident - Guter Gauck – böser Gauck?

Noch nie ist ein Bundespräsident vor seiner Wahl so intensiv durchleuchtet worden wie Joachim Gauck. Das Netz trieb die Debatte voran, war dabei nicht immer sachlich, aber den traditionellen Medien immer einen Schritt voraus und näher am realen leben als viele Journalisten.

Nein, man kann nicht behaupten, dass es Joachim Gauck geschafft hätte. Wenn man bei Twitter in den vergangenen Tagen den Hashtag #notmypresident eingab, dann fand man allerlei, manches hatte auch mit dem vermutlich nächsten Bundespräsidenten zu tun. Aber angesichts der Aufregung, die noch vor drei Wochen herrschte, wenn der Name Gauck fiel, muss man es fast schon als Enttäuschung werten, wenn man unter diesem Schlagwort inzwischen allerlei Präsidiables, Möchtegern-Präsidiables und Ex-Präsidiables findet.

Aber es lohnt sich, kurz vor der Bundesversammlung am kommenden Sonntag noch einmal zurückzublicken und darüber zu reden, wie ihn das Netz den Gauck sah uns sieht.

Die Gauck-Gegner mühten sich redlich und manchmal eher unredlich, Zitate zu sammeln, die den Beleg für Gaucks Nichteignung erbringen sollten, die Gauck eher wohlgesonnenen oder wenigstens neutral gegenüberstehenden Kandidaten (der Autor dieses Textes zählt sich dazu) verwiesen gebetsmühlenartig darauf, wie gerne man Gaucks Sätze aus dem Zusammenhang reißt und sie dann wieder an anderer Stelle neu zusammenschraubt. 

[gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident]

Aus-dem-Kontext-Reißer und Kontext-Konsens-Gutmensch wären vermutlich gerne gebrauchte Schimpfworte für die jeweils andere Seite geworden, würden sie nicht so sperrig klingen. Man müsste in diesem Zusammenhang vielleicht mal Psychologen fragen, ob es sich bei den Netzdebatten der letzten Wochen nicht irgendwie auch um das gehandelt hat, was die Fachleute gerne einen “Bestätigungsirrtum” nennen. Wir wollen so bleiben, wie wir sind, wir wollen weiter denken, was wir denken: Wer so tickt (ohne es zu wissen natürlich), für den waren die vergangenen Netzwochen das reinste Paradies.

Wer Gauck nun ums Verrecken nichts als his president haben will, der findet mit nur wenig Mühe sofort die ideologische Entsprechung im Netz. Und auch die Befürworter müssen nicht lange nach Netzargumenten suchen, um sich bestätigt zu fühlen, dass jetzt doch endlich der richtige Mann kommt.

Man muss die Debatten über den Bald-Präsidenten wohl aus diesem Blickwinkel betrachten, weil die Diskussionen um ihn auch im Netz in den vergangenen Wochen inhaltlich nichts substanziell Neues erbracht haben. Vermutlich jedoch ist zugleich noch nie ein Präsidentschaftskandidat schon vor seiner Wahl so beleuchtet worden wie Gauck.

Es liegt in der Natur der Sache, dass man beim öffentlichen Sezieren zu unterschiedlichen Auffassungen kommt, bei Politikern zudem. Nur, dass die Betriebstemperatur, die öffentliche Grunderregung sozusagen, nirgendwo per se so hoch liegt wie im Netz. Aufregung kommt und geht im Netz, beides ungewöhnlich schnell, selten von richtiger Dauer.

Gauck, war da was? Die Schlagworte der Diskussionen in der Netzgemeinde sind schon lange wieder andere. Aktuell ist es ausreichend, die Stichworte ACTA oder Leistungsschutzrecht für Verlage in die Runde zu werfen, um ein bisschen Schaum vor dem Mund und anderswo zu erzeugen.

Man springt allerdings zu kurz, würde man die Gauck-Festspiele im Netz als einen Beleg dafür verwenden wollen, dass im Netz sehr netzspezifische Debatten geführt würden, die niemand führt, außer Menschen, die generell zu viel Zeit im Netz verbringen. Im Gegenteil, denn tatsächlich hat es „das Netz“ immerhin fertiggebracht, die Agenda auch klassischer Medien mitzubestimmen.

Zugegeben, mit Verspätung. Denn zunächst, am Tag nach der Wahl, diskutierten Journalisten das, was Journalisten eben so diskutieren, wenn es um Politik geht (was meistens Debatten sind, die der normale Mensch noch sehr viel weniger führt als die Debatten, die Netzmenschen miteinander haben). Journalisten diskutierten also zunächst darüber, ob die Kanzlerin beschädigt sei. Sie fragten nach einem möglichen Comeback der FDP im Allgemeinen und Rösler Zukunft im Speziellen. Und sie erörterten, ob sich die Wahl Gaucks auf das transatlantische Verhältnis auswirken könnte. Dabei wäre es vermutlich in früheren Tagen auch geblieben, Leitartikler zeigen sich gegenseitig ihre Hirschgeweihe und debattieren Themen im Duktus Berliner Politprominenzlokale. Wäre diesmal nicht ein paar Journalisten aufgefallen, dass “die Netzgemeinde” gerade im Moment sehr viel Spannenderes diskutiert.

Politische Debatten schaffen es also inzwischen auch mal aus der digitalen in die analoge Welt und wollte man mit der analogen Welt böse ins Gericht gehen, müsste man sagen: Endlich ist die analoge Welt auch mal im echten Leben angekommen, auch wenn sie, paradox genug, dafür erst die Anstöße aus einer Welt benötigte, die sie selbst gerne als “virtuell” bezeichnet.

Lerneffekt: Man kann aus der Utopie auch eine Realität entwickeln. Der öffentlichen Debatte hat es jedenfalls nicht geschadet, dass sie sich um das drehte, was Menschen anscheinend wirklich beschäftigt. Wenn dadurch auch nur ein einziger staatstragender Borchardt-Leitartikel, garniert mit ein paar Empfehlungen (“Was der neue Präsident jetzt tun muss”), verhindert wurde, war die Debatte ja für etwas gut.

Es ist auch nicht weiter schlimm, dass im Netz über Gauck diskutiert wird; es ist dies ja schließlich das Tolle an diesem Netz, dass dort beinahe jeder beinahe alles sagen darf und dass man ab und an aus einer Debatte sogar weniger dumm wieder rausgeht, als man reingekommen ist. Erstaunlich ist eher anderes: dieses maßlose Erschrecken darüber, dass Gauck angeblich so ganz anders sein soll, als er das bösartigerweise vorgetäuscht.

Der Präsident, nein, nicht nackt, aber eben doch: huch, ein manchmal Konservativer, einer, der Dinge sagt, die man nicht gerne hört, wenn man einem Bestätigungsirrtum unterliegt. Keiner, der sich in Schubladen stecken lässt, keiner, der Dinge sagt, nur um anderen zu gefallen. Man könnte das auch einen Freigeist nennen, eine Bezeichnung übrigens, die viele von denen, die Gauck in den vergangenen Wochen so massiv angegangen sind, gerne für sich in Anspruch nehmen werden. Das Netz jedenfalls, so viel steht fest, wird auch künftig viel Spaß an ihm haben. Selbst wenn er dann, nicht zu ändern, auch sein Präsident sein wird.

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