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Große Koalition - Sozialstaat mit fetter Armutsindustrie

Die SPD definiert jeden sechsten Deutschen als armutsgefährdet, also betreuungsbedürftig. In der Großen Koalition wird die Armutsindustrie wohl einen neuen Boom erleben

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Was immer im nun tatsächlich zu befürchtenden Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD stehen wird: Ohne Armut geht es nicht. Bei den zehn Forderungen des sozialdemokratischen Juniorpartners heißt es an zweiter Stelle, Altersarmut solle dauerhaft verhindert werden. Ein löbliches Ziel. Leider dürfte es dabei nicht bleiben. Im „Regierungsprogramm 2013-2017“ hatte sich die SPD nichts Geringeres vorgenommen, als „Hunger und Armut endlich zu überwinden“ – global, versteht sich. In Deutschland sei das „Armutsrisiko“ zu hoch, „die Armut“ wachse ebenso wie „der Reichtum“.

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Es ist ein Satz ohne Nährwert, weiß doch niemand so recht zu definieren, was das denn eigentlich ist, Armut in Deutschland. Darum weichen die Damen und Herren von der Sozialpolitik auf einen bewährten Kniff aus. Sie reden nicht von Armut, sondern von „Armutsgefährdung“ oder „Armutsrisiko“, setzen die Grenze bei 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens, und schon ist jeder sechste Deutsche armutsgefährdet, also betreuungsbedürftig. Simsalabim.

Ein skandalöser Zustand wird herbeidefiniert


Der feine Unterschied zwischen echter Armut und virtueller Armutsgefährdung soll in der Debatte verloren gehen. Darum wurde der seltsame Begriff erfunden. Er soll eine stattliche Zahl in den Debattenorbit schießen, an der das Etikett sehr lose hängt. Ein skandalöser Zustand wird herbeidefiniert, das Tremolo angestimmt, die Lage grell ausgeleuchtet. Die wirklich Armen, jene Menschen, die nicht ein und nicht aus wissen in ihrer materiellen Not, sind dann ein Tröpflein nur im Ozean umfassender Bedürftigkeit. Der tiefere Sinn dieser Tauschoperation ist wie bei jeder Tauschoperation rein ökonomischer Natur: Die „Armutsindustrie“ soll weiter boomen.

Das hässliche Wort steht in einem gefährlichen Buch, das die richtigen Fragen stellt. Der „florierenden Armutsindustrie“ in Deutschland, so der Schweizer Autor René Zeyer, sei das eigene Hemd näher als der fremde Rock. Zeyer war zuvor mit zwei nicht minder bissigen Büchern aus der Welt der Hochfinanz hervorgetreten, die Beobachtungsfreude und Drastik verbanden. Der ehemalige Auslandskorrespondent der NZZ kennt die Welt der Ziffern und der Nullen. Nun behauptet er allen Ernstes: „Armut ist Diebstahl.“

Sein Zorn trifft auf eine absolut konträre Stimmungslage. Die Armen, so scheint es, sind die Avantgarde der Globalisierung, ihre traurigen Helden. Gerade aber, wer Armut reduzieren will, sollte diese These in sein Herz fallen lassen: „Mehr Armutsbekämpfung schafft mehr Armut. (…) Unsere Methoden der Armutsbekämpfung halten den Armen in seiner Unmündigkeit, machen ihn zum manchmal renitenten, aber meistens unterwürfigen Empfänger von milden Gaben.“ Strukturell ist diese Unmündigkeit gewollt, denn die „Wachstumsindustrie Armut“ giert – gut kapitalistisch – nach immer neuen Absatzmärkten.

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Andererseits ist das Heer der Sozialarbeiter, Mittelverwalter, Pädagogen und Schlechtredner von den Zumutungen des Kapitalismus befreit. Die allein rund anderthalb Millionen Beschäftigten in den Wohlfahrtsverbänden (größtenteils auf Staatskosten) haben keine Konkurrenz, keinen Konkurs zu fürchten, obwohl sie ihr Ziel, Armut zu verringern, drastisch verfehlen. Sage und schreibe 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, fast 800 Milliarden Euro, entfallen auf staatliche oder private Sozialleistungen. Wenn aber, so Zeyer, „mit einem riesigen finanziellen Aufwand und den meisten Lohnabhängigen, die ein einzelner Wirtschaftszweig Deutschlands aufweist, keine Besserung erkennbar ist, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand.“ Man sollte es ganz sein lassen.

Kaltes Radikalprogramm
 

Zeyer gibt der „Hilfsindustrie“ – nicht den Armen – die Schuld an der falschen Entwicklung. Den Betroffenen aber mutet er das Szenario zu, sie sollten nur dann unterstützt werden, wenn sie arm sind aufgrund von Alter, Gebrechen, Krankheit, körperlicher oder mentaler Defizite. Ansonsten gelte mit Tocqueville: „Wer von der Wohlfahrt lebt, ist ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung.“ Zur Eigeninitiative gebe es demnach keine Alternative, ein Armer sei nun einmal „kein berechtigter Hilfeempfänger per Definition“.

Kalt klingt dieses Radikalprogramm, und so ist es dann doch gut eingerichtet, dass Zeyer derzeit nicht in der Gefahr steht, Bundeskanzler zu werden. Doch wahr ist auch: Nicht jeder, der die Begriffe Solidarität und Gerechtigkeit im Munde führt, ist ein Menschenfreund, fremder Leute Geld lässt sich gut verteilen, Staatsschulden sind kein Pausenwitz, und nicht alle Armut ist fremdverschuldet. In den nächsten vier Jahren werden wir von alldem nichts hören. Der neue großkoalitionäre Staat hat teil an jener Kraft, die Gutes will und Böses schafft.

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