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(picture alliance) Nach wie vor umstritten: Im Bundestag wird weiter über die Beschneidung debattiert

Beschneidung - Gleiche Regeln für alle

Das geplante Beschneidungsgesetz der Bundesregierung stößt auf Widerstand. Cicero-Autor Philipp Blom sieht rechtlich keinen Zweifel: Beschneidung bei einem Kind sei Körperverletzung. Ein Plädoyer für eine konsequente Säkularisierung der Werte

Selten hat ein Gerichtsurteil ohne unmittelbare strafrechtliche Auswirkungen so viel Entrüstung und so viele Kontroversen verursacht wie das Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung von Jungen. Beide Seiten der daraus resultierenden Debatte haben sich rhetorisch überboten, kein Klischee wurde ausgelassen, von A wie Antisemitismus und Auschwitz bis Z wie Zukunft von Islam und Judentum in Deutschland.

Juristisch gesehen kann kein Zweifel bestehen: Ein medizinisch nicht notwendiger chirurgischer Eingriff an einem Kind ist Körperverletzung, noch dazu, wenn er ohne Narkose vorgenommen wird. Keine Tradition und keine gute Absicht kann das ändern. Es gibt wohl keinen deutschen Arzt, der einem westafrikanischen Kind traditionelle Ziernarben in den Körper ritzen würde, auch wenn die Konsequenzen dieses Eingriffs weniger gravierend sind als die Entfernung der Vorhaut bei einem Jungen – und auch wenn die Eltern meinten, sie würden ihm ein identitätsstiftendes Geschenk machen.

Es lohnt sich daher kaum, die daran anschließenden Argumente noch einmal durchzuexerzieren, denn es geht nicht darum, ob ein beschnittener Mann sexuell eingeschränkt oder im Vorteil ist, was die hygienischen Aspekte sind und ob die Zeremonie von Kindern als traumatisch erfahren wird oder nicht und möglicherweise bleibende psychische Schäden hinterlässt.

Tatsächlich geht es um Machtverhältnisse: die Macht einer Gemeinschaft über ihre Kinder, die Macht einer Gesellschaft über ihre Minderheiten und den Stellenwert von religiösen Überzeugungen und Traditionen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft. Diese Frage ist in den vergangenen Jahren in verschiedener Form immer wieder aufgetaucht, sei es bei der Debatte um Verschleierung und Burka und das Verbot in Frankreich, im niederländischen Streit um das Schächten von Vieh nach jüdischem oder islamischem Religionsgesetz (das heißt ein Kehlschnitt ohne Narkose, der in anderen Kontexten längst verboten ist) oder in der kürzlich in Deutschland neckisch aufgeworfenen Forderung nach einem Blasphemieverbot.

Diese Scharmützel zwischen religiösen Traditionen und weltlichen Werten stellen einen Kontext her, der hinter den oft hysterisch geführten Teildebatten ein größeres und wichtigeres Thema erkennen lässt: Wie können wir uns Regeln für eine Gesellschaft geben, deren Mitglieder nicht alle dieselbe Tradition haben, dieselben Werte und dieselben Ziele? Was kann und was muss in einer multikulturellen, von Migration geprägten Gesellschaft verbindlich sein und was verhandelbar?

Seite 2: Wie können wir Werte definieren, die für alle verbindlich sind? 

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich diese Frage kaum gestellt, weil europäische Gesellschaften historisch und ideologisch homogener waren. Es gab einen Riss zwischen christlichen und aufklärerischen Werten, der sich durch die Debatten zog und noch immer zieht, aber da wichtige Aufklärungsdenker wie Kant und Voltaire es sich nicht mit dem lieben Gott verderben wollten, gab es doch einen gemeinsamen Boden, von dem aus argumentiert und gestritten werden konnte. In der Praxis bedeutete Aufklärung oft Christentum „light“.

Das hat sich grundlegend geändert. Heute haben nicht nur Moslems, sondern auch andere Europäer, die unterschiedlichen Traditionen entstammen oder Atheisten sind, persönliche und kulturelle Prioritäten, die sich nicht in christlichen Werten fassen lassen – und dieser Anteil der Bevölkerung wird weiter steigen. Die Frage ist also, wie wir Werte definieren können, die eine minimale Gemeinsamkeit beschreiben und für alle verbindlich sind.

Das Problem mit religiös inspirierten Werten – etwa dem „jüdisch-christlichen Wertekanon“ der CDU – ist, dass der Wahrheitsanspruch jeder Tradition den aller anderen ausschließt, trotz allem Gerede von Ökumene, die darin in der Praxis besteht, dass eine religiöse Krähe der anderen kein Auge aushackt, wie man auch jetzt beim demonstrativen und dubiosen Schulterschluss der Kirchen mit dem jüdisch-islamischen Beschneidungsgebot sehen kann.

Unterschiedliche Traditionen und Weltbilder können nur dann miteinander leben, wenn die Ordnung des öffentlichen Raumes nicht einer von ihnen eine Vormachtstellung gibt, in einem neutralen Raum, der auf säkularen Minimalwerten aufbaut. Gerade in Deutschland tut man sich schwer damit – nicht nur, weil der Bundespräsident ein Pfarrer ist und die Bundeskanzlerin eine Pfarrerstochter, die christliche Werte im Grundgesetz verankert wissen möchte, sondern auch, weil die Bundesrepublik keine konsequente Trennung von Kirche und Staat vollzieht: Sie treibt Kirchensteuern ein (nicht aber Moscheen-, Synagogen- oder Tempelsteuern oder Beiträge für Fußballclubs), und der Standardtext eines Amtseids endet noch immer mit „so wahr mir Gott helfe“.

Seite 3: Eine multikulturelle Moral könnte ungefähr so funktionieren wie der Straßenverkehr. 

  Die Berufung auf „jüdisch-christliche“ Werte täuscht darüber hinweg, dass viele davon mit unserem Moralverständnis völlig unvereinbar sind. Gemeint sind oft Nächstenliebe und universelle Bruderschaft, aber Erstere ist als „goldene Regel“ (Was du nicht willst …) in fast allen moralischen Systemen verankert, und die zweite hinderte Christen und Moslems jahrhundertelang nicht daran, Menschen anderer Hautfarben und Bekenntnisse zu versklaven oder zu ermorden. Erst unter dem Druck der Aufklärung haben die abrahamitischen Religionen begonnen, sich von den Werten der Bronzezeit teilweise loszusagen, nach denen Frauen rechtlos waren, Homosexuelle gesteinigt wurden, Exorzisten Epileptikern Dämonen austrieben und kleine Jungen als Ersatz für Menschenopfer beschnitten wurden. Damals glaubte man übrigens auch noch, die Erde sei eine Scheibe.

Eine multikulturelle Moral könnte ungefähr so funktionieren wie der Straßenverkehr. Es gäbe viele Möglichkeiten, eine Vorfahrtsregel praktikabel zu begründen – etwa indem Autos einheimischer Herstellung immer Vorfahrt haben oder besonders umweltfreundliche, kleine, oder rote Fahrzeuge oder Frauen vor Männern. Tatsächlich aber gilt: Ein Auto ist ein Auto ist ein Auto, solange es und sein Fahrer den technischen Anforderungen genügen. Es ist gleichgültig, was der Fahrer gerade denkt, wie er die Welt sieht, warum er fährt, woher er kommt oder wohin er will, solange er die StVO befolgt. Wenn er aber darauf besteht, auf der linken Straßenseite zu fahren, weil das bei ihm Tradition ist, baut er erst einen Unfall und verliert dann seinen Führerschein.

Dieses täglich erfolgreich praktizierte System des Miteinander-Verkehrens basiert auf Gleichheit, auf Sicherheit und auf Freiheit (niemand fragt nach dem Warum, Woher oder Wohin). Es ist nicht sehr erhebend, weil es keine metaphysischen Ziele definiert, aber gerade deswegen ist es menschlich und anwendbar. Vielleicht sollten wir den lyrischen Paragrafen 1 Absatz 2 der Straßenverkehrsordnung ins Grundgesetz aufnehmen: „Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Darauf kann man keine Religion begründen – wohl aber eine Gesellschaft.

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Walter Ranft | Mi., 31. Oktober 2018 - 01:06

Zur Klarstellung gegen den Begriffssalat dieses Artikels: 1. 'Werte' sind verbindlich für die, für die sie verbindlich sind. Werte lassen sich nicht verbindlich machen. 2. Wenn es um Verbindliches für alle geht, geht es weder um "Werte"(auch nicht um 'minimale'), noch um "multikulturell" zu nennende 'Moral': Wohl aber um für alle geltende Regeln. 3. Verbindlich für Dazukommende sind zunächst einmal die Regeln der Mehrheitsgesellschaft; das grundlegende Regelwerk unserer Gesellschaft ist das Grundgesetz. 4. Unantastbare Würde und Recht auf körperliche Unversehrtheit lassen Sonderregeln irreversibler Eingriffe unter keinen Umständen zu. 5. Nicht selten ist die Einhaltung von Regeln mit Zumutungen verbunden; auch an ihnen zu lernen und zu wachsen ist zuzumuten.