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„Germany 2064“ - Der Thriller zur Globalisierung

Wird Deutschland von den Flüchtlingsbewegungen erdrückt? Oder eher eine bunte, brummende Volkswirtschaft? Der schottische Buchautor Martin Walker schaut mit seinem Buch „Germany 2064“ in die Zukunft – und wagt erstaunliche Wirtschaftsprognosen

Autoreninfo

Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Es sagt sich leicht, dass die Zukunft Deutschlands schlechter würde als die Gegenwart. Denn es ging dem Land, wie jedes Kind von Eltern und Großeltern erfahren kann, noch nie so gut. Das schürt Ängste vor Änderungen. Der Flüchtlingsandrang zeigt das nicht nur, sondern deutet bereits Bewegung in politischen Umfragen an.

Niemand jedoch kann wirklich in die Zukunft schauen. Umso spannender ist es, wenn Berufene es versuchen. Martin Walker etwa, einst „Guardian“-Journalist und inzwischen weltweit erfolgreicher Autor. In den kommenden Tagen wird er in Deutschland auf Tour sein, um aus seinem jüngsten Buch zu lesen. Denn er ist für den Wirtschaftsbuchpreis 2015 nominiert. „Germany 2064“ heißt es, „Zukunftsthriller“ ist sein Genre.

Das Buch ist – was die Handlung angeht – eher schlicht, literarisch wirklich nicht wertvoll. Spannend macht es jedoch der Versuch Walkers, das Leben in Deutschland in den kommenden 50 Jahren zu beschreiben, und zwar auf Grundlage heutiger Forschung.

In welcher Welt werden wir leben?


Die Idee dazu hatte nicht der Schriftsteller, sondern eine berühmte amerikanische Unternehmensberatungsgesellschaft. A.T. Kearney feierte im vergangenen Jahr seinen 50-jährigen Bestand auf dem deutschen Markt. Aus diesem Anlass ersann sie gemeinsam mit deutschen Politikern, Unternehmern und Wissenschaftlern einen Zukunftsentwurf für das Jahr 2064. Es wurden Antworten gesucht auf grundlegende Fragen, die Walker nennt: Wie werden wir sein? In welcher Welt werden wir leben, wie Geld verdienen? Was machen dann unsere großen Firmen? Wie werden sich die Menschen bewegen, wie ihre Güter und Daten?

Walker wurde gedrängt, das literarisch darzustellen. Denn der Schotte, der in Washington lebt, ist Bestseller-Autor der „Bruno, Chef de police“-Kriminalromane. Er kam dem Wunsch nach. In dem hochkarätig besetzten Seminar der Unternehmensberatung war allen Teilnehmern bewusst geworden, dass weite Teile der deutschen Infrastruktur noch aus dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg stammten: Straßen, Schienen, Energieversorgung, Häfen, Raffinerien, Telefonleitungen, Schulen, Universitäten, Wohnungsbau. Die jetzige Generation solle nachdenken, all das für die kommenden Jahrzehnte zukunftsfest zu machen.

Die notwendigen Voraussetzungen dafür waren folgende: möglichst präzise demografische Vorhersagen ebenso wie die Zuwanderungsquoten. Doch die änderten sich schon 2015 enorm – und damit auch die Anzahl der zu erwartenden Menschen im Rentenalter. Ebenso schwer kalkulierbar war die künftige Energieversorgung, wobei schon vorhersehbar war, welche politisch gewünschten Möglichkeiten es dazu gibt, nämlich die Förderung erneuerbarer Energieträger.

Abtrocknungsgeräte statt Baumwollhandtücher


Walker vermutet nun, dass Deutschlands Bevölkerung in 50 Jahren in zwei verschiedenen Welten lebt: der Großteil städtisch modern mit allem Hightech, ein kleiner Teil hingegen bewusst ländlich, in sogenannten freien Gebieten. Diese Menschen heißen Freiländer, sind faktisch Aussteiger-Ökos, die alle Technik ablehnen, welche nach 1980 erfunden wurde. Politisch wird das insofern problematisch, da diese nicht steuerlich angebundenen Menschen im Notfall medizinische Versorgung als auch Sicherheit von den Städtern bekommen. Nach Jahren der friedlichen Koexistenz wird das ein Streitthema, nachdem sich zunehmend Kriminelle in die freien Gebiete absetzen. Nach ihnen jagt die staatliche Polizei mit automatisierten Partnern, das sind Roboter-Wesen mit künstlicher Intelligenz.

Fiction das alles, doch mancher Aspekt in Walkers künftigem Deutschland scheint greifbar nahe: etwa die Fusion von Banken und Telekommunikation, da schon jetzt etliche Finanztransaktionen online getätigt werden, Diensten wie Google oder Paypal nur noch die Banklizenz fehlt.

Oder selbstfahrende Wagen, wie sie schon in Was-ist-Was-Büchern von 1975 dargestellt werden. Heute sind sie bereits technisch möglich und werden im Güterverkehr erprobt, denn – der Demografie wegen – ein absehbarer Fahrermangel lässt sie notwendig werden. Bei Walker fahren Logistik-Konvois mit 60 Wagen fahrerlos durchs Land, selbst navigierend.

„Der Erfolg der Globalisierung besiegelt ihren Untergang“


Auch der Personal Communicator, kurz PerC, ist bereits faktisch Androide-Realität, wenn er auch in Walker-Zukunft allmorgendlich alle Infos an die Zimmerdecke wirft. Danach folgt der programmierte Duschautomat, und das Abtrocknungsgerät ersetzt das Frottee-Handtuch, weil Baumwolle wegen des weltweiten Wassermangels unerschwinglich geworden sein wird. Die Städter haben allzeit ortungsbare Chips implantiert, die ihnen Versicherungsschutz gewähren, sofern sie sich verantwortlich ernähren und risikoarm leben.

Aktuell wirken die von Walker dargestellten Überlegungen, „wonach Deutschland dank seiner starken Wirtschaft gutausgebildete Migranten anlocken und zu einem Superstaat mit mehr als hundert Millionen Einwohnern anwachsen würde, der so viel mächtiger wäre als seine europäischen Partner“. Deutschland bleibt jedoch europäisch gesinnt, eindeutig jedoch die Führungsmacht des Kontinents im engen Wirtschaftsverbund mit Nordamerika.

„Paradoxerweise besiegelte der Erfolg der Globalisierung ihren Untergang“, heißt es bei Walker. Denn die USA seien isolationistisch geworden, bestärkt durch Energie-Unabhängigkeit. Mitte des 21. Jahrhunderts habe sich die Meinung durchgesetzt, dass Globalisierung nicht mehr im Interesse der eigenen Wirtschaft sei. „Weil keine andere Großmacht willens oder in der Lage gewesen wäre, Amerika zu ersetzen, ging es damit zu Ende. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da das halsbrecherische Wachstum der chinesischen Wirtschaft stagnierte. Die Niedrigzinspolitik führte schließlich zu einer noch nie dagewesenen Vermögensblase und einer Finanzkrise nach der anderen.“

Europa und die USA hätten aber dann wieder die Weltmarktführung übernommen, durch Rückeroberung der von Billiglohnländern lange dominierten Preisvorteile bei Kleinstwaren. 3-D-Drucker hätten dieser Konkurrenz den Garaus gemacht. „Das weltweite Handelsvolumen war stark zurückgegangen, ebenso der Bedarf an Rohöl und Gas, da erneuerbare Energien in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Die großen Wirtschaftsräume Europa und Nordamerika waren nunmehr aufgrund ihrer vielfältigen Geldgeschäfte (...) eng miteinander verflochten und entsprechend voneinander abhängig. Die lange Rezession während der 2030er Jahre, die auf die Krise der asiatischen Exportgeschäfte folgte, hatte die Wirtschaften Europas und Nordamerikas noch enger zusammenrücken lassen.“

Flüchtlingslager in Afrika


Insgesamt geht es der Welt in Walkers Vision in 50 Jahren nicht spürbar schlechter als heute. Die Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung ist sogar überall weit besser. Flüchtlingslager in Afrika allerdings gibt es, finanziert und streng bewacht von Soldaten jener Staaten, die ungefilterten Andrang abhalten wollen. Hierbei helfen dann auch martialische Roboter.

Alles in dem Buch ist natürlich reines Mutmaßen. Wie jede Roboter-Beschreibung wird auch diese schon nach wenigen Jahren überholt wirken und wegen linkischer Details lächerlich. Doch, auch das nimmt Walker auf, ist der Begriff Roboter selbst noch jung. In der Literatur wurde er erstmals 1921 in Karel Čapeks tschechischem Bühnenstück „R.U.R.“, Rossumovi Universalno Robtoti, verwendet.

Robota hat im Tschechischen neben Arbeiter auch die Bedeutung von Frontdienst. Beides ist in Zeiten der Automation und des Drohnen-Kriegs längst eingetreten. Insofern könnte auch Walkers ungebrochene Aussicht ein Glaskugel-Blick sein. Angesichts des gegenwärtigen Pessimismus wäre es fast schön, er bewahrheitete sich im Wesentlichen.

Martin Walker: Germany 2064 – Ein Zukunftsthriller. Die Welt von morgen. Aus dem Englischen von Michael Windgas. Diogenes, September 2015. 432 Seiten, 32 Euro.

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