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Freie Wähler - Das Ende einer Männerfreundschaft

Ein ehrgeiziger Parteichef treibt die Freien Wähler Richtung Bundestag. Ein Niedersachse und ein Adenauer-Enkel sollen den Weg bereiten. Doch gewonnen hat nach einem Jahr nur einer, zwei fühlen sich verschaukelt. Unser Reporter Constantin Magnis begleitete die Freien Wähler zwölf Monate lang – und schrieb eine Chronik enttäuschter Hoffnungen

Autoreninfo

Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

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Torsten Jung sagt: „Gurkentruppe“. Als hätte er nicht dazugehört. Als wäre Jung, 50, nicht Spitzenkandidat der Freien Wähler in Niedersachsen gewesen. Er redet über die Partei, die er im April 2013 verlassen hat. Die können ihm alle gestohlen bleiben. Genau wie der Hubert, der Parteichef, dem offenbar alles, was hier läuft, scheißegal ist. Und Leute wie er, Jung, haben sich dafür verheizen lassen. Er sitzt in seinem Garten bei Hannover, es ist wieder Sommer. So wie vergangenes Jahr, als alles anfing. Als er noch vom Landtag träumte, sogar vom Bundestag. Pah, Bundestag! Das können die ohne den Werhahn eh vergessen.

Stephan Werhahn, 60, ist abgetaucht, nach neun Monaten als Spitzenkandidat der Bundespartei einfach von der Bildfläche verschwunden. Wir finden ihn in der Lobby eines großen Hotels. Er zückt sein Notizbuch. Minutiös hat er dort die Ereignisse festgehalten, eine Chronik enttäuschter Hoffnungen, er hält sie hoch, wie zur Verteidigung. Er ist erschöpft davon, sich rechtfertigen zu müssen. Die Monate als Kronprinz der Partei haben ihn nicht nur Nerven gekostet. Flüge, Hotels, Mitarbeiter, alles aus eigener Kasse, er schätzt die Kosten auf rund 30 000 Euro. Addiert er, was er in der Zeit hätte verdienen können, kommt er auf eine Viertelmillion. War es das wert? So wie die Dinge zuletzt gelaufen sind? Er grinst grimmig.

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Nur Hubert Aiwanger, 42, ist, das muss er sagen, zufrieden mit der Gesamtsituation. Der Parteivorsitzende, ein Landwirt aus Niederbayern, spitzt beschwichtigend die Lippen. Er hält Hof im Café Einstein in Berlin. Gerade verlässt der Herr von der FAZ seinen Tisch, der Kollege vom Tagesspiegel wartet schon. Alle fragen dasselbe: Wie bitte soll es jetzt weitergehen, mit der Partei? „Wir befinden uns“, sagt Aiwanger, „nicht in einer Krise, sondern in einem Wachstumsprozess. Dass da Leute kommen und gehen“, erklärt er, „ist so normal wie das Amen in der Kirche.“
Dabei ist wenig normal an der Geschichte, die sich mit und zwischen diesen drei Männern abgespielt hat.

Entsandt von Hubert Aiwanger, dem Feldherrn aus Bayern, sollten Jung, der Truppenführer in Niedersachsen, und Werhahn, der Fahnenträger im Bund, den Weg bereiten für den Aufstieg der regional zumindest in Bayern erfolgreichen Freien Wähler in den Bundestag. 2012 sah es für einen Moment so aus, als könnten die FW mit ihrem neuen Image als Euro-Rettungskritiker zu der bürgerlichen Protestpartei werden, auf die Konservative so lange gehofft hatten.

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Ein Jahr später lässt sich zumindest sagen, dass Aiwanger seine Macht in Bayern gefestigt hat. Mit Umfragewerten von 10 Prozent hat er beste Chancen, bei der bevorstehenden Landtagswahl wieder drittstärkste Kraft und Horst Seehofers CSU gefährlich zu werden. Der Aufstieg in die Bundesliga dagegen ist bisher spektakulär missglückt – und gipfelte in der unfreiwilligen Geburtshilfe für die „Alternative für Deutschland“, der AfD.

War das Stück der drei Herren auf dem Spielplan der Republik nun ein Drama? Eine Tragödie? Eine Posse? Jung, Werhahn und Aiwanger. Wer diese drei Akteure über viele Monate begleitet und beobachtet, kann Erstaunliches lernen über die Schwierigkeit, eine politische Kraft zu etablieren – aber auch über Männerbündnisse und ihre Vergänglichkeit.

Rahstorf, Niederbayern, Sommer 2012
Ein BMW saust durch die Provinz, auf dem Beifahrersitz Hubert Aiwanger, auf dem Weg zu seinem Bauernhof. Maisfelder, ein Bächlein: Jetzt, sagt er, befahren wir sein Land. 24 Hektar, alles in seiner Hand. Da, er zeigt aus dem Fenster: Die Weidenbäume hat er als Bub gepflanzt, und dort, am Feld, das ist sein Jagdhochsitz. Die Gebäude sind schmucklos und funktional, die Hofflächen asphaltiert. Aiwanger hat hier alles selbst gemacht: die Ställe gebaut, betoniert, gefliest. Der einzige Fachmann, den er von außen auf den Hof holte, war ein Elektriker. Den brauchte er, um die Maschinen anzuschließen.

Das Futter für das Vieh produziert das Land, Aiwanger ist autark. Die Kälber brüllen, als er den Stall betritt, die Schweine furzen. Er schreitet mit prüfendem Blick die Gitter ab. Zum Füttern braucht er keinen Knecht, das macht ein Automat. Und für die Befruchtung der Sauen braucht er keinen Eber, das macht er mit der großen Plastiktube mit dem verdünnten Ebersperma selber. „Der Hauptvorteil am Bauersein ist, mein eigener Herr zu sein“, sagt Aiwanger. Er setzt sich und lehnt sich zurück. Bauernhof: Passt alles. Partei: Passt auch alles. Besonders jetzt, wo der Werhahn im Boot ist. „Ich hab schnell erkannt, dass der uns viel bringen kann“, sagt Aiwanger. „Er hat diese vornehme Zurückhaltung, und auf Kritik reagiert er sofort, insofern find i des ganz angenehm mit ihm.“


 

München, Sommer 2012
Stephan Werhahn lässt vor Aufregung seinen Rinderbraten kalt werden. Er hat ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen. Er, Enkel Konrad Adenauers, seit drei Jahrzehnten in der freien Wirtschaft, ist nach 40 Jahren aus der CDU ausgetreten, um bei den Freien Wählern neu anzufangen. Aus Protest gegen Merkels Europolitik, vor allem aber: um Politiker zu werden. Wie sein Großvater, der seinen riesigen Schatten immer schon vorauswirft. Der elegant gekleidete Werhahn verkörpert alles, was Aiwanger nicht ist. Ihn umweht ein Hauch von Elite. Sein Studium in Washington und eine internationale Karriere als Banker, Manager und Berater haben den Juristen zum Kosmopoliten und Finanzexperten gemacht. Das legitimiert seine Eurokritik und damit den Kurs der Partei. Werhahn ist das prominente Gesicht, mit dem die Bayern sich in Berlin sehen lassen können. Die FW sind Werhahns Chance, neben Adenauers Fußstapfen endlich die eigenen zu setzen.

Hannover, Sommer 2012
Torsten Jung hupt zur Begrüßung. Ins Fenster seines roten Minis hat er ein Blatt mit dem Aufdruck „Freie Wähler – Landtagswahl 2013 – Wir sind dabei!“ befestigt. Igelfrisur, Lederkette, Händedruck wie eine Stahlpresse: Der Ex-Soldat betreibt einen Internetshop, ist 2009 aus der CDU aus- und bei den FW eingetreten, er ist Regionsabgeordneter und soll Spitzenkandidat für die Wahlen im Januar werden, das „Frontschwein für Niedersachsen“, wie er sagt. Er führt auf die Terrasse seines Reihenhauses. „Wenn wir hier nicht mindestens über 3 Prozent kommen, kriegen wir nie den Hype, den wir im Bund brauchen“, sagt Jung. „Und ich habe den absoluten Anspruch, die zu kriegen.“ Er schüttelt die Faust mit energischem Pathos. „Noch besser natürlich 5 Prozent!“

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Ronnenberg, Niedersachsen, September 2012
Auf der heutigen Landesmitgliederversammlung soll Jung zum Spitzenkandidaten gekürt werden. Er trägt seinen guten Anzug und die feierlich-nervöse Miene eines Kommunionskindes. Aufgekratzt geht Jung auf und ab. „Nee, bisschen fickerig bin ich schon“, sagt er. Ein Kollege klopft ihm auf die Schulter: „Wird schon, Torsten, wird schon.“ Neben 140 Freien Wählern aus Niedersachsen wird auch der Parteichef erwartet. „Sei mir gegrüßt“, sagt Aiwanger, als er kommt. Nach einer Grundsatzrede adressiert er seinen Hoffnungsträger: „Ich will Torsten Jung nicht über Gebühr herausheben, es gibt sicher viele hier, die Ähnliches aufzuweisen haben. Ich will nur sagen, ich könnte gut mit ihm zusammenarbeiten, könnte das natürlich auch mit jedem anderen, aber Sie entscheiden.“ Ob das eine Empfehlung war, weiß niemand so recht. Trotzdem wird Jung von 91 Mitgliedern gewählt. Auf Listenplatz drei landet ein schmächtiger Professor namens Bernd Lucke. „Hat doch alles super geklappt“, sagt Jung mit betonter Lässigkeit.

Abensberg, Niederbayern, September 2012
Vor dem Riesenrad steht Werhahn mit seiner Sprecherin Sabina Metternich. Er trägt eine Trachtenweste, sie eine Lederhose, beide wirken etwas verkleidet. Hier findet heute der traditionelle politische Frühschoppen vom Volksfest Gillamoos statt, Werhahn soll eine Rede halten. Immer wieder checkt er seinen Notizzettel. Metternich zupft ihn am Wams, hier, der Knopf muss zu, und da guckt noch ein Faden raus, er erträgt es widerwillig. „Sei mir gegrüßt“, sagt Aiwanger, als er kommt. Die Freien Wähler marschieren, angeführt von einer Blaskapelle, ins Feststadel ein, Aiwanger und Werhahn an der Spitze. Bums, Bums, Humptata, der Rheinländer hebt zum Takt die Knie. Auf der Stadelbühne stehen die beiden nebeneinander, die Kapelle spielt weiter. Aiwanger winkt den Arm im Rhythmus und strahlt, Werhahn lässt ihn lieber locker schwingen, schnippst mit dem Finger und dreht dafürlächelnd den Kopf hin und her. Und wie sie sich da so anblicken, Werhahn schwingend, Aiwanger winkend, wirkt es für einen kurzen, grotesken Moment so, als würden sie verliebt miteinander tanzen, der Finanzexperte von Welt und der Bauer aus Bayern.

Werhahn schlägt in seiner Rede einen komplexen, sachlichen Bogen von Adenauer über den Aufbau der EU hin zu Triple-A-Ratings und spanischen Immobilien. Die Gamsbarthutträger klatschen höflich. Dann folgt Aiwanger. Er beginnt seine Sätze auf normaler Lautstärke und steigert sie, bis er praktisch brüllt. Mit hochgekrempelten Ärmeln und rotem Kopf hält er eine Wutrede gegen die Regierungspolitik, nennt Merkel ein „altes Schlachtross“ und verpasst der CSU einen „Tritt in den Hintern“, das Stadel kreischt vor Vergnügen. Im Rausch seiner Rede gießt Aiwanger dem Trompeter das Wasserglas übers Notenblatt, er redet sich 53 Minuten lang in Rage, eine Rampensau in heiligem Zorn. Als er fertig ist, trällern seine Anhänger wie ein Indianerstamm, er steigt von der Bühne zu ihnen herunter wie ein Boxer nach dem Kampf. Sie werfen sich ihm an die Brust, er greift ihnen in die Specknacken, sie umschlingen sein durchgeschwitztes Hemd. Werhahn sitzt am Biertisch und nippt an seinem Radler.

Hannover, Oktober 2012
In Niedersachsen läuft es nicht optimal, sagt Torsten Jung. Er kriegt keine Presse, keine Aufmerksamkeit, keine Spenden. Dafür aber am Tag 100 unkoordinierte Mails von Parteifreunden, die irgendwas wollen. Weil ihm weder Landesvorstand noch Bundespartei so richtig helfen, muss er sich um alles selber kümmern, Plakate, Veranstaltungen, Werbeclip. Außerdem sucht er noch ein gutes Wahlkampfthema. Bernd Lucke sagt immer, sie sollen nur den ESM nehmen. Dafür hat Lucke sogar selbst einen Flyer gebastelt. „Der hat total viel Text“, sagt Jung. „Wer will denn so was lesen?“

Wolfsburg, Oktober 2012
Die Autostadt wimmelt von Freien Wählern. Die heutige Bundesmitgliederversammlung soll Grundsatzprogramm und Spitzenkandidat absegnen. Bis in die Nacht hat Aiwanger gestern die Mehrheiten für den Mann seiner Wahl gesichert. Der Rheinländer sitzt hinten im Saal und presst angespannt die Fingerspitzen aneinander. Auf der Bühne steht ein Stuhl ohne Namensschild: der Vizethron der Partei. Als Werhahn aufgerufen wird, schreitet er würdevoll nach vorne, hält mit kaum merklich zitternder Hand eine nüchterne Bewerbungsrede, schreitet würdevoll zurück. „Das ist eine Person, die wir getrost ins Rennen um ihre Gunst schicken können“, lobt Aiwanger. Werhahn wird mit einer Gegenstimme gewählt. Der Landesvorstand hängt ein Schild mit seinem Namen an den leeren Stuhl. Werhahn nimmt darauf Platz und schaut sehr staatstragend. Unter ihm bilden die Mitglieder eine Schlange, um dem neuen Kronprinzen die Hand zu schütteln. Und für ein gemeinsames Foto natürlich.

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Berlin, November 2012
Flughafen Tegel, erster Schnee, Werhahn kommt mit Spitzhut aus der Schiebetüre. Er ist beim mexikanischen Botschafter eingeladen, und auch sonst ist sein Kalender voll: Besuche bei Ortsverbänden, Pressetermine, Fundraisingtreffen, und dann arbeitet er mit einer Ghostwriterin noch an einem Buch über sein Leben, für alle Fälle. Das Taxi hält am Tiergarten, es ist stockfinster. Die Botschaft liegt auf der anderen Parkseite, dafür muss er den Rollkoffer nur ein bisschen durch den Kies ziehen. Sein wahres Ziel, der Bundestag, eines Tages vielleicht sogar das Finanzministerium, liegt nicht viel weiter. Wie er da hinkommen soll, weiß er noch nicht. Langsam muss sich der Schlauch für diese unorganisierte Partei mal lohnen, sagt er. Aber noch immer werden die FW in keiner Umfrage aufgeführt. „Das ist für mich der größte Frust“, sagt er. „Wenn wir immer noch bei 2 Prozent wären, das wäre eine Katastrophe. Wir müssen bei 3 oder 4 sein. Aber: I don’t have the proof.“ Von den Bäumen tropft es kalt.

Hannover, Dezember 2012
Torsten Jung geht auf dem Zahnfleisch. Die Presse schweigt ihn tot, wegen des Euro-Themas, glaubt er, das ist denen zu heikel. In der Partei herrscht das Chaos, der Wahlkampf, sagt er, überfordere sie total. Und noch immer keine Umfrageergebnisse: „Zwischen 2 und 6 Prozent ist alles drin“, glaubt er. Was es jetzt gibt, immerhin, ist ein Video: Eine Windmaschine bläst der Kandidatin Jessica sinnlich durchs Haar, und Bernd Lucke sagt empörte Dinge zur Euro-Rettung. Aber Jung schläft nicht mehr richtig. Er wird nachts wach, weil ihm einfällt, was noch organisiert werden muss, und kriegt bis morgens kein Auge mehr zu. Vor einem geplanten Treffen textet er: „Sorry, war alles ein bisschen viel! Liege platt im Bett und muss leider für heute absagen!“

Hannover, Januar 2013
Aiwanger kommt mit dem ICE aus München: Wahlkampfinspektion. „Sei mir gegrüßt“, sagt er und zwängt sich in Jungs Mini. Sie kurven durch die Stadt, Hannover ist komplett schwarz, rot, grün und gelb plakatiert. „Der Rösler hängt hier überall“, bemängelt Aiwanger. „Aber hier“, weist Jung ihn auf ein winziges, orangenes Plakat hin, „hängt unsere Kandidatin Jessica! Und da hängt unser Professor“, er zeigt auf ein Bernd-Lucke-Plakat. „Das wird noch“, verspricht Jung. „Morgen montiere ich noch mal 200 Plakate. Dann habe ich als Spitzenkandidat 1050 Plakate aufgehängt. Und zwar alleine!“ Aiwanger nickt abwesend. „Das wird hier alles orange“, sagt Jung. „Das ballert voll rein!“ An strategischen Punkten werden Flyer verteilt: Am Edeka in Ronnenberg oder beim Rossmann in Barsinghausen. Die frierenden Wahlhelfer vor dem Supermarkt in Empelde wirken etwas unmotiviert, Aiwanger verteilt deshalb selbst Flyer an die Einkäufer. „Hier hams an Flyer von den Freien Wählern“, ruft er einer Rentnerin zu. Sie schaut verängstigt. „Wir sind gegen diese Rettungsschirme“, erklärt Aiwanger. „Ah!“, sagt sie und greift zu. Dann klemmt er den parkenden Autos routiniert Flugblätter unter die Scheibenwischer, gibt den Männern Wahlkampftipps und verbeugt sich zum Abschied mit ausgebreiteten Armen, wie ein Zauberer nach seiner Vorstellung.
 

Hannover am Wahltag, Januar 2013
„Privatparty“ steht an der Tür zum Irish Pub vor dem Landtag, aber die Stimmung bei den Freien Wählern drinnen ist so mittel. Heute Abend wird das kollektive Urteil über sie alle fallen. Niemand ahnt, wo sie stehen. Werhahn und Jung blicken auf die Leinwand wie auf ein Schafott. „Wir brauchen diese scheiß 3 Prozent“, sagt Jung. „Die brauchen wir einfach.“ Hinter ihm brummt es: „Ich grüße dich.“ Der Parteichef ist da. Erste ARD-Hochrechnung, schwarze, rote, grüne, nirgendwo ein Hinweis auf die Existenz der FW. Die sind unter „Andere“ aufgeführt. Und die haben zusammen, erscheint nun: 2,5 Prozent. Aus Jungs Gesicht entweicht alles Leben. „Wir machen auf jeden Fall weiter“, sagt ein Kollege. „Auf jeden Fall“, sagt Jung, und verschwindet um die Ecke. Kurz darauf kommt er strahlend zurück: „Leute, im ZDF drüben haben die ,Anderen‘ 4 Prozent!“ Alles versammelt sich um den tröstlichen zweiten Bildschirm. Aiwanger bestellt sich gemütlich eine Pizza.

Aber Jung und Werhahn wollen es genau wissen. Sie marschieren ins Landtagsgebäude gegenüber. Es wimmelt vor Kameras und Mikros, an jeder Ecke werden O-Töne von Politikern aller Parteien eingeholt, nur die Freien Wähler fragt niemand etwas. Unerkannt schleichen sie durch die Gänge. Der SPD-Kandidat Stephan Weil kommt ihnen mit einem Pulk von Journalisten entgegen, Werhahn und Jung werden unsanft zur Seite gedrückt. Schließlich finden sie den Infostand. „Haben Sie schon Zahlen für die Freien Wähler? Irgendwas?“, fragt Werhahn die Dame. „Für wen?“ Er beugt sich vor: „Die Freien Wähler!“ Sie sucht. Nichts. Entnervt gehen sie zurück ins Pub. Dort klingelt Aiwangers Telefon. Er geht ran, schweigt, nickt. Wahlergebnis Freie Wähler: 1,1 Prozent. „Also“, sagt Aiwanger zufrieden, „da muss ich sagen, des posst! Darauf kann man aufbauen, das hat ganz klar Potenzial!“ Werhahn wirkt durchsichtig und sagt gar nichts mehr. Torsten Jung geht allein eine rauchen. Es schneit.

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Berlin, März 2013
Auf einer Pressekonferenz sonnt sich der schmächtige Professor Lucke von Listenplatz drei triumphierend im Blitzlicht der Kameras. Er hat eine neue Partei gegründet, die „Alternative für Deutschland“. Das befürchten Werhahn und Jung schon seit dem Wahltag. Lucke hatte beide noch vor Stimmauszählung einberufen, um eine Bilanz des Wahlkampfs zu ziehen: Katastrophal, in fast allen Bereichen hätten die FW versagt, Aiwanger hätte es gleichgültig plätschern lassen. Die Konsequenz: Lucke und seine Truppen machen nun ihr eigenes Ding.

Für Werhahn platzt mit dem Zersplittern der Eurokritiker der Traum vom Bundestag. Er versucht erfolglos, Aiwanger zur Kooperation mit der AfD zu bewegen. Der hat keine Lust. Und Werhahn dämmert ein Verdacht: Die FW sind im Bund nicht nur völlig kampagnenunfähig, der Bundestag ist Aiwanger egal. Niedersachsen, der Bundestagswahlkampf: alles nur Feuerwerk, Wichtigmache, pompöse Kulisse für den Krieg des Parteichefs um die Macht in Bayern. Und Werhahn: für Aiwanger lediglich der Elektriker an dessen Hof. Der nötige Handwerker, um die Bauernschläue an die großen Themen der Finanzwelt anzuschließen. Ende März weiß Werhahn, dass er gehen wird. Nicht zur AfD, die ist ihm zu konspirativ. Stattdessen besinnt er sich seiner CDU-Kontakte. Die Politikerkarriere will er schließlich immer noch. Am 26. März trifft er deshalb in Stuttgart den Landeschef Thomas Strobl und den Abgeordneten Christian von Stetten und unterschreibt vor ihren Augen einen Mitgliedsantrag. Erst am nächsten Tag schickt er eine Mail an Aiwanger und die Parteiführung. Betreff: „Rücktritt und Austritt“.


 

Ronnenberg, Niedersachsen, April 2013
Und das ist erst der Anfang. Auch Torsten Jung schickt Aiwanger und dem Vorstand eine Mail. Betreff: „Auf Wiedersehen“. Er wirft der Parteispitze vor, es nicht auf langfristige, politische Ziele, sondern nur das Geld der Wahlkampfkostenrückerstattung abgesehen zu haben. Er und 19 seiner FW-Freunde verlassen die Bundespartei. Und nicht nur die. Auch der Vorstand im Saarland tritt aus. Aiwanger sei „diktatorisch“ und kümmere sich nur um Bayern. In Berlin läuft der dortige Vorsitzende mit einem Großteil des Landesverbands zur AfD über. Die Vorsitzenden in Hamburg und Baden-Württemberg tun es ihm gleich. Anfang Mai folgt die gesamte Frankfurter Stadtratsfraktion. Bundesweite Umfragen sehen die Freien Wähler bei 2 Prozent. Die Partei liegt in Scherben.

Berlin, Mai 2013
Aiwanger spaziert durchs Regierungsviertel, mit dem neuen Berliner Landesvorstand Christian Christiansen. Der ist gleichzeitig auch Presseoffizier und war vorher Werhahns Sprecher, aber immerhin sitzt in Berlin überhaupt noch einer. Aiwanger ist trotz der Austrittslawine vergnügt. „Da trennt sich eben die Spreu vom Weizen“, sagt er. „Die waren sowieso nie mit dem Herzen bei uns.“ Das alles mache die Partei nur stärker, erklärt er.

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Und Werhahn? Tja, wer kennt schon die wahren Gründe für dessen Fahnenflucht? Manche glauben ja, der sei von der CDU als Spion zu den FW geschickt worden, sagt Aiwanger. Er selbst glaubt eher, Werhahn habe Torschlusspanik bekommen. Na ja, jedenfalls gut, dass er weg ist. Zurück zum Tagesgeschäft: die Hauptstadtrepräsentanz und Wahlkampfzentrale der FW in Berlin. Die sieht Aiwanger heute zum ersten Mal. Eine kleine Altbauwohnung, an der Wand ein Poster der New Yorker Skyline. Am Computer sitzt ein langhaariger Praktikant. Aiwanger blickt aus dem Fenster in den Innenhof. „So“, sagt er, „passt doch alles!“

Hannover, Juni 2013
Jungs Schritte hallen durch die Flure des Regionsgebäudes. Er ist dort noch immer Abgeordneter. Als parteiloser Freier Wähler hat er sich der CDU-Fraktion angeschlossen. Nur so hat er überhaupt ein Stimmrecht. Die CDU-Leute haben höhnisch gejohlt, als er nach der Wahl wieder im Büro auftauchte. Jung hat jetzt einen FW-Dachverband außerhalb der Bundespartei gegründet. Er hofft, in drei Jahren eine eigene Fraktion zusammenzuhaben. Die Bundespartei hat ihm die Zugänge zu allen Websites gesperrt. Die orangene Sonne der FW darf er nicht mehr verwenden. Dabei, findet Jung, sollten die froh sein, wenn er ihr Scheißlogo benutzt. Er guckt in den Besprechungsraum. „Moin, Moin!“, ruft er den CDU-Kollegen zu. Dann checkt er sein Postfach. Eines von 27.

Berlin, Juni 2013
Werhahn steht am Brandenburger Tor und blickt auf die Uhr. Er wartet auf den CDU-Abgeordneten Stefan Kaufmann. Werhahn hatte sich das mit der CDU anders vorgestellt. Er hatte gehofft, als Bundestagskandidat aufgestellt zu werden, von einem Listenplatz in Baden-Württemberg war die Rede. Aber daraus wurde irgendwie nichts. Er wurde bei Generalsekretär Hermann Gröhe vorstellig. Der hat ihm zwar das Adenauer-Bild über seinem Schreibtisch gezeigt, aber danach hat Werhahn nichts mehr von ihm gehört. Mit Annette Schavan hat er sich getroffen. Die hat sich dann auch nicht mehr so richtig gemeldet. Dabei hat er doch eigentlich eine gewisse Profilierung, findet er. Die CDU muss doch irgendwas daraus machen können, ihm irgendetwas bieten: eine Position, eine hervorgehobene Rolle. Eine Heimat! Da kommt endlich der Abgeordnete. Ob man sich nicht setzen wolle, fragt Werhahn.
„Okay“, sagt Kaufmann, „aber ich hab nicht viel Zeit!“

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