Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Deutsche Einwanderungspolitik - Gegen alle Angst

Die Tränen des Flüchtlingsmädchens Reem rührte die Nation, nun fordert SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann ein Einwanderungsgesetz. Eine andere Einwanderungspolitik und ein modernes Asylrecht sind längst überfällig. Wir müssen uns von Lebenslügen befreien und Vereinfachern widersprechen

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

So erreichen Sie Christoph Seils:

Pegida sei Dank, in der Politik wird wieder über Flüchtlings- und Einwanderungspolitik diskutiert. 173.072 Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr erstmalig in Deutschland politisches Asyl beantragt. Darüber hinaus wurden 13.500 Syrer als sogenannte Kontingentflüchtlinge aufgenommen. Die Flüchtlingswelle hat viele Städte und Gemeinden völlig überrascht, vielerorts wehren sich Anwohner gegen die Unterbringung von Asylbewerbern.

Alle politisch Verantwortlichen wissen jedoch, dass die Zahl der Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge und auch der Arbeitsmigranten aus aller Welt nicht abnehmen wird. Sie wissen auch: Einfache Antworten und schnelle Lösungen gibt es nicht mehr.

In einem Kokon aus Lebenslügen
 

Trotz dieses Wissens wird es den Verantwortlichen nicht leichtfallen, die Politik neu auszurichten. Denn was die Einwanderungspolitik betrifft, stecken sowohl linke als auch konservative Politiker in einem Kokon aus Lebenslügen. Emotionen bestimmen den Diskurs statt Fakten, Vorbehalte statt Wissen. Die Übergänge von großer Hilfsbereitschaft zu Naivität, aber vor allem von berechtigten Sorgen zu irrationalen Ängsten sind fließend.

Die Erwartungen an die Politik sind zugleich riesig. Dabei lässt sich in einer globalisierten Welt, die ökonomisch und kommunikativ immer enger zusammenrückt, keine andere gesellschaftliche Herausforderung so wenig in den alten Kategorien des Nationalstaats politisch und rechtlich regeln. All dies macht es den Vereinfachern so leicht, Ressentiments zu schüren.

Viele konservative Politiker weigern sich bis heute anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Sie glauben immer noch, eine homogene Wertegemeinschaft erhalten zu können, in der sich Zuwanderer assimilieren oder unterordnen. Die Anerkennung kultureller Unterschiede denunzieren sie als Multikulti.

Essenspakete statt Bargeld
 

Seit zwei Jahrzehnten versuchen Innenpolitiker Flüchtlinge abzuschrecken. Sie schränkten die Freizügigkeit von Asylbewerbern ein, gaben Essenspakete statt Bargeld aus, verweigerten eine reguläre Gesundheitsversorgung und verboten ihnen zu arbeiten. In den Heimatländern sollte sich herumsprechen, dass Flüchtlinge in Deutschland nicht willkommen seien. Es hat nicht funktioniert. Vielmehr riskieren immer mehr Menschen ihr Leben und machen Schlepper reich, um nach Europa, nach Deutschland zu kommen.

Linke hingegen weigern sich immer noch, ökonomische Argumente anzuerkennen. Sie halten es für moralisch verwerflich, den Wert eines Migranten zu berechnen und die Einwanderungsregeln am Bedarf des Arbeitsmarkts auszurichten. Gleichzeitig werden Integrationsverweigerung und Parallelgesellschaften schöngeredet. Selbst die Pflicht, die Sprache zu lernen, wird als deutschtümelnd und rassistisch denunziert. Und die Linke wehrt sich dagegen, Einwanderung zu steuern und zu begrenzen. Deutschland soll alle Menschen in Not aufnehmen. Dabei ist Armut gar kein Asylgrund, denn das Grundrecht soll politisch Verfolgte schützen. Jedoch halten viele Linke einfach jede Abschiebung für einen Skandal.

 

Ein wenig immerhin haben sich die Töne in der Debatte schon geändert. Derzeit hüten sich Politiker davor, von „Asylmissbrauch“ zu sprechen. Anders als vor zwei Jahrzehnten, als die Zahl der Asylbewerber schon einmal auf ein Rekordniveau gestiegen war und viele Politiker sich die These zu eigen machten, das Boot sei voll. Heute spricht selbst der sonst grobkörnig agierende CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer von einer „humanitären Verantwortung gegenüber den Schutzbedürftigen“.

Die SPD fordert ein Einwanderungsgesetz. Volker Kauder, Chef der Union im Bundestag, setzt sich stattdessen für schnellere Asylverfahren ein und dafür, Menschen, „die da sind“, schneller in Arbeit zu bringen. Innenminister Thomas de Maizière von der CDU plädiert für ein „Zuwanderungsmarketing“, denn Deutschland habe bereits „flexible und unbürokratische“ Regelungen. Zum Beispiel für Hochqualifizierte die europäische Blue Card. Zudem ermöglicht eine Beschäftigungsverordnung mittlerweile in über 70 Berufen die Zuwanderung von Fachkräften. Nur habe sich das in der Welt noch nicht herumgesprochen. In seiner eigenen Partei allerdings auch nicht.

Sicher ist: Der Migrationsdruck auf Deutschland wird hoch bleiben. Menschen werden als Fachkräfte kommen, weil diese in der Industrie, im Handwerk, in Kliniken oder in der Pflege gebraucht werden. Sie werden vor Kriegen und Katastrophen hierher fliehen. Sie werden als Arbeitsmigranten und als Armutsmigranten kommen, weil Deutschland ein Sehnsuchtsort ist, nicht nur wegen seines Wohlstands, sondern auch wegen seiner politischen und religiösen Freiheiten. Nicht selten werden sich die unterschiedlichen Motive überlagern.

Deutschland braucht Einwanderung
 

Die Einwanderung wird Deutschland und die Deutschen verändern. Deutschland wird internationaler, ethnisch heterogener und kulturell vielfältiger. Auch Integrationsproblemen und religiösen Konflikten werden sich die Deutschen stellen müssen. Wegducken geht nicht mehr.

Sicher ist auch: Deutschland braucht Einwanderung. Angesichts einer Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau würden sonst in einem halben Jahrhundert statt 80 nur noch 60 Millionen Menschen hier leben. Um die Zahl der Einwohner auf dem jetzigen Niveau zu halten, um den Fachkräftemangel auszugleichen und um die Folgen der Überalterung in den Rentenkassen abzufedern, ist eine Nettoeinwanderung von mindestens 300.000 bis 400.000 Menschen jährlich notwendig. 2013 gab es in Deutschland ein Wanderungssaldo von 430.000. Die meisten Einwanderer kamen im Rahmen der Freizügigkeit aus EU-Staaten, aber das wird nicht so bleiben, wenn die Eurokrise irgendwann überwunden ist.

Ein Einwanderungsgesetz ist deshalb unverzichtbar. Es wäre schon deshalb ein Symbol, weil darin die verstreuten Richtlinien, Verordnungen und Paragrafen, die es bereits gibt, gebündelt werden könnten. Es wäre ein Signal, wenn es in den klassischen Herkunftsländern Anlaufstellen gäbe. Und es wäre eine Botschaft an Flüchtlinge, dass es eine Alternative zum teuren und lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer gibt.

Ein Asylrecht für das 21. Jahrhundert
 

Doch wer ein modernes Einwanderungsrecht will, der muss auch das Asylrecht, das nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Welt klassischer Nationalstaaten entstanden ist, modernisieren und an die Gegebenheiten des globalisierten 21. Jahrhunderts anpassen. Es ergibt keinen Sinn, alle Migranten, die nicht aus der EU stammen, durch das Nadelöhr Asylrecht und durch ein monatelanges Anerkennungsverfahren zu zwingen.

Viele Asylbewerber wissen, dass sie keine individuelle politische Verfolgung nachweisen können. Es ist aber für sie die einzige Möglichkeit, erst einmal einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen. Warum also kann ein qualifizierter Asylbewerber keinen Statuswechsel beantragen und zum Einwanderer werden? Das Asylverfahren würde erst einmal ausgesetzt.

Seit 2011 haben rund 70.000 Syrer in Deutschland einen Asylantrag gestellt, nur 3,73 Prozent davon wurden als politisch Verfolgte anerkannt, der Rest darf aus humanitären Gründen bleiben. Warum ist es nicht möglich, allen Syrern, die aus dem Bürgerkrieg und vor dem IS-Terror geflohen sind, am Asylverfahren vorbei einen speziellen Aufenthaltsstatus zu gewähren? Niemand hält es schließlich für möglich, dass der Krieg dort schon in ein paar Monaten vorbei ist. So wie es sichere Herkunftsstaaten gibt, könnte es auch eine Liste gescheiterter Staaten geben, aus denen Flüchtlinge ohne Asylverfahren aufgenommen werden.

So notwendig ein Einwanderungsgesetz ist, so wenig darf man sich jedoch der Illusion hingeben, dieses sei ein Allheilmittel. Viele Ökonomen und manche Politiker glauben, Einwanderung ließe sich so bedarfssynchron organisieren. Diese Vorstellung ist weltfremd. Auch Kanada, das anders als Deutschland weit entfernt liegt von den großen Flüchtlingsströmen dieser Welt und keine Armutsgrenze hat, eignet sich nicht als Vorbild. Auch das ist so eine deutsche Lebenslüge.

Natürlich muss es in einem Einwanderungsland wie Deutschland legale Einwanderungswege geben. Andererseits lassen sich Deutschland und Europa mit noch so hohen Mauern nicht abschotten. Solange das Gefälle zwischen extremem Reichtum und extremer Armut besteht, werden Menschen aus armen Ländern in reiche drängen. Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt lässt sich dabei gesetzlich regeln. Doch wer vor Krieg oder Armut flieht, den stoppen weder Paragrafen noch Anerkennungskriterien oder Aufnahmekontingente.

Illegale Einwanderung wird es immer geben
 

Gerade weil es wenig legale Möglichkeiten gibt, suchen sich Flüchtlinge illegale Wege. Illegale Einwanderung ist eine Realität, vor der sich die Politik bislang völlig verschließt. Die Schätzungen darüber, wie viele Migranten in Deutschland illegal leben, gehen weit auseinander. Sie reichen von Zehntausenden bis mehreren Hunderttausend. Diese Menschen leben im Verborgenen, arbeiten oft in sklavenähnlichen Verhältnissen und sind völlig rechtlos. In Frankreich oder den USA etwa werden illegale Einwanderer in regelmäßigen Abständen amnestiert und legalisiert. Denn einerseits stärkt die illegale Einwanderung die organisierte Kriminalität und die Schattenwirtschaft, andererseits sind illegale Einwanderer meist jung und leistungsbereit. Für die deutschen Behörden jedoch sind diese nur ein ausländerrechtliches Problem. Sie gelten als Straftäter. Werden sie aufgegriffen, werden sie abgeschoben.

Arbeitsmigranten und Armutsflüchtlinge, Asylbewerber und Illegale – es nützt weder, diese Gruppen einzeln zu betrachten noch sie gegeneinander auszuspielen. Es hilft auch nicht, humanitäre Verpflichtungen mit Interessen der Wirtschaft in einen Gegensatz zu bringen. Steuern lässt sich Einwanderung insgesamt nur, wenn diese als ein System kommunizierender Röhren betrachtet wird. Begrenzen lässt sich Zuwanderung nur, wenn nach den Erfordernissen von Demografie, Arbeitsmarkt und Menschlichkeit eine flexible Obergrenze festgelegt wird. Die Deutschen auf diesem Weg mitzunehmen, wird eine der großen Zukunftsaufgaben der Politik sein, vergleichbar mit jenen der Wiedervereinigung oder der Energiewende. Einfach wird das nicht.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.