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Franz-Josef Wuermeling - Der Erfinder des Karnickelpasses

Vom Betreuungsgeld bis zur Genderdebatte - die Familienpolitik bietet immer Zündstoff. Über sie wurde schon vor 60 Jahren in Deutschland gestritten – nur noch viel heftiger. Damals wurde unsere als modern geltende Familienpolitik faktisch erfunden - von einem Urkonservativen

Autoreninfo

Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Es sagt sich leicht, Deutschland müsse familienfreundlicher werden. Diese Forderung ist so alt wie die Bundesrepublik selbst. Aber ein Ministerium, das sich eigens um Familien kümmern soll, ist eine vergleichsweise junge Erfindung – und zwar weltweit.

[[{"fid":"63382","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":397,"width":297,"style":"width: 180px; height: 241px; float: left; margin: 10px;","class":"media-element file-full"}}]]Vor genau 60 Jahren wurde ein Mann als „Spiegel“-Titelheld berühmt, der das Familienministerium faktisch erfunden hat: Franz-Josef Wuermeling. Er war hoch umstritten, wurde gleichermaßen bewundert wie verachtet - und hat Deutschland bis zur Gegenwart tief geprägt.

In jeder Kneipe, jedem Kiosk und allen Restaurants hängt ein Schild in silbernem Rahmen mit dreizehn Verbotsparagrafen, der Auszug aus dem Jugendschutzgesetz, wie es jener Franz-Josef Wuermeling verlangt hatte. Er war Deutschlands erster Familienminister. Vieles, was heute wie diese Tafeln zum festen Inventar der Bundesrepublik gehört, geht auf ihn zurück: vom Kindergeld über den Steuerfreibetrag für Familien bis hin zum BAföG.

Allen größeren Familien war der Name Wuermeling aber vor allem deshalb ein Begriff, weil er ihnen das Bahnfahren verbilligte. Was offiziell bei der Deutschen Bundesbahn „Bescheinigung zur Fahrpreisermäßigung für kinderreiche Familien“ hieß, wurde vom Volk „Karnickelpass“ genannt. Oder schlicht „der Wuermeling“.

Wuermeling hatte selbst fünf Kinder, und er sah den Staat in der Pflicht, Familien das Leben finanziell leichter zu machen. Je mehr Kinder sie hatten, desto stärker sollten sie entlastet werden. Denn Familien gäben dem Staat das Wichtigste überhaupt: Zukunft.

Es hatte bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik hinein noch nie eine eigene Zuständigkeit für Familienpolitik in Deutschland gegeben. So etwas war in keinem Staatsorganigramm von Bismarck bis Hitler vorgesehen gewesen – bis Wuermeling das zu ändern begann: 1952, zum Ende der ersten Wahlperiode, forderte er, dass im Innenministerium ein Referat für Familienfragen eingerichtet wird. Das war der erste kleine Schritt, dem dann der große folgte: ein eigenes Ministerium, welches Adenauer nach der Bundestagswahl 1953 schuf.

Das Familienministerium reißt alte Wunden auf
 

Damals gab es starke grundsätzliche Vorbehalte gegen die Gründung. Familienpolitik, das klang völkisch und galt daher vielen Deutschen unmittelbar nach dem Nationalsozialismus als geradezu reaktionär. Mutterkreuze und Patenschaften des Führers hatte es nur für jene gegeben, die zur „Reinerhaltung der Rasse“ beitrugen. Auch lieferten kinderreiche Familien „Kanonenfutter“ für den Krieg.

Der stockkonservative Wuermeling war allerdings ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten gewesen. Der Jurist und Volkswirt zählte zu den wenigen Beamten seiner Zeit, die sich nach Hitlers Machtübernahme 1933 beharrlich geweigert hatten, in die NSDAP einzutreten. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ war er 1938 aus dem Beamtenstand entfernt worden.

Nach Kriegsende wurde Wuermeling aktiver Konservativer in der Politik. Die Bundesrepublik war eben erst gegründet, da machte Adenauer ihn zu seinem ersten Kanzleramtschef. Seit 1949 saß er auch im Bundestag und galt dort als einer der besten Redner; gefürchtet allerdings sogar in den eignen Reihen wegen seiner angriffslustigen und verletzenden Polemik. Die Opposition nannte ihn einen Eiferer, jedenfalls wurde er als eifriger Zwischenrufer sehr früh schon in den Protokollen des Bundestags verewigt.

Als Bundesfamilienminister trieb Wuermeling vor 60 Jahren die Demografie-Frage um. Er warnte vor Geburtenrückgang und Überalterung. Wir Deutschen seien ein „sterbendes Volk“, sagte er 1954 auf einer seiner vielen Reden im Land. Wenn Wuermeling auftrat, waren die Säle voll, es wurden Busse und sogar Sonderzüge eingesetzt, weil so viele den Minister sehen und hören wollten.

Oft warnte er auf solchen Veranstaltungen vor einer überalterten Gesellschaft: In seinem Geburtsjahr 1900 seien nur fünf Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt gewesen, 1955 seien es bereits zehn Prozent und 1980 würden es 15 Prozent sein. Die „Welt“ warf dem Minister daraufhin vor, ein Panikmacher zu sein: „In ihm verkörpert sich eine seltsame und nicht ungefährliche explosive Mischung von Sachwissen, gepaart mit Demagogie.“

Es schien den Journalisten anderthalb Jahrzehnte vor dem „Pillenknick“ unvorstellbar, dass Wuermelings düstere Vorhersagen eintreffen könnten. Erst im Rückblick wird deutlich, wie präzise und weit er blickte: Der Anteil der über 65-Jährigen in Deutschland liegt heute bei 21 Prozent – jeder Fünfte ist im Rentenalter.

Wuermling als „Bundessittenwächter"
 

Wuermlings Katholizismus ließ ihn jedoch engherzig und intolerant auftreten. Besonders in Fragen der öffentlichen Moral meldete er sich unverblümt zu Wort. Er hielt den Kinohit „Die Sünderin“ für Frevel. Wegen der Nacktszene mit Hildegard Knef sei der Streifen ein schlimmes Beispiel für Filme mit „ehezerstörenden Tendenzen“, wetterte er in einer Bundestagsdebatte dagegen. Er motzte sogar über die Darstellung der nackten Europa auf den Fünfmarkscheinen. „Bundessittenwächter“ witzelten die Medien, als er 1958 den Verkauf von Kondomen aus Automaten zu verhindern suchte.

Als Minister unterstellte er arbeitenden Ehefrauen und Müttern „Konsumwut“, wie er überhaupt einen zunehmenden „Wirtschaftsegoismus“ in der jungen Bundesrepublik beklagte. „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“, sagte er. „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen.“

Während seiner Amtszeit stand Wuermeling als Prediger für die Familie im Visier der professionellen Spötter. Karikaturisten, Kabarettisten und auch Journalisten zogen über ihn her. Seine Familienpolitik wurde verhöhnt als „Sinnbild des kinderreichen trauten Familienlebens eines vergangenen Jahrhunderts“. Wuermeling galt seinen Kritikern als Mann von vorgestern. „Die Familie ist es, die unseren Zeiten Not tut“, zitierte er selbst dazu passenderweise den österreichischen Literaten Adalbert Stifter, der 1850 die Familie als Fundament eines stabilen Staatswesens beschrieb. „Auf der Familie ruht der Fortschritt, die Kunst, die Wissenschaft, der Staat.“

Obwohl dieses Ideal in der Adenauer-Zeit noch etliche Anhänger hatte, galt selbst denen ein eigenes Ministerium als überflüssig. Auch Medien, die mehr familienpolitische Leistungen forderten, hielten nichts von dem neuen Amt. Der Tenor vieler Kommentare war in etwa so: Die Familien hätten in den Nachkriegsjahren doch bewiesen, dass sie immer aus eigener Kraft wieder auf die Beine kämen; dazu bräuchten sie keinen Minister.

Durch ihn allerdings ist Deutschlands Familienpolitik fundamental verändert worden. Vor 60 Jahren begann Wuermeling die Familienpolitik aufzubauen, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen. Als er 1962 aus dem Amt schied, war das Ministerium als solches unumstritten. Zwei Minister und fünfzehn Ministerinnen führten sein Haus nach ihm – eine seiner Nachfolgerinnen war Angela Merkel. Sie hat ihren Vorgänger nicht mehr kennengelernt, weil er drei Jahre vor dem Mauerfall starb. Doch in der Ahnengalerie der Kanzleramtsminister im Bundeskanzleramt hängt sein Bild ganz vorn.

Wulf Schmiese hat Franz-Josef Wuermeling in dem eben erschienenen Buch „Kinderglück. Leben in großen Familien“ porträtiert. Darin werden kinderreiche Familien früher und heute beschrieben. Es wird am 3. September vom Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin vorgestellt.

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