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Extremisten und Islam-Gegner - Religionskritik mit der Axt

Terroristen und Islam-Kritiker führen ihre medialen Deutungsschlachten jetzt auch auf der Straße. Doch statt die Klischees weiter zu bestätigen, braucht es eine Debatte über eine Vernunftreligion

Autoreninfo

Tahir Chaudhry (24) ist Student der Philosophie und Islamwissenschaften, Freier Journalist und Chefredakteur des Magazins DAS MILIEU.

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Die barbarischen Akte der ISIS-Terroristen stellen eine deutliche Gefahr für muslimisches Leben und Denken in aller Welt dar. Doch wenn Muslime beteuern, dass es keinerlei Schwierigkeiten im Umgang mit Extremisten in ihren eigenen Reihen gebe, klingt das nach einem Tumorpatienten, der die Hilfe eines Arztes in Frage stellt. Auch wenn das Herz noch funktioniert, wird diese Einstellung auf kurz oder lang zum Tod des Patienten führen. Muslime sollten daher nicht leugnen, dass es ein Problem gibt, dürfen aber gleichzeitig den Patienten nicht sogenannten Islam-Kritikern überlassen, die mit der Axt auf ihn losgehen, um den Tumor aus dem Körper zu entfernen.

In diesen Zeiten ist es medial durchaus lukrativ, Extremist oder Islam-Kritiker zu sein. Beide propagieren Ansichten, die für ihren Broterwerb entscheidend sind, beide lechzen nach Aufmerksamkeit, Einflussnahme und sind Gefangene ihrer selektiven Wahrnehmung, indem sie reihenweise Verse aus dem Koran aus ihrem historischen und textuellen Kontext reißen. Wer am lautesten schreit, bekommt das Mikrofon, und wer sich am skurrilsten aufführt, darf vor die Kamera. Unsere mediale Wirklichkeit lebt von Erregung und Übertreibung, was zu Fehlurteilen und der Bestätigung ewiger Klischees führt.

Warum erstaunt es uns, wenn gewaltbereite Hooligans angesichts der vermeintlichen Ohnmacht des Staates gegenüber Islamisten, den Weg der Selbsjustiz beschreiten? Es ist die Kritik mit der Axt, die in ihrer Konsequenz immer zu Maß- und Fristlosigkeit tendiert, in unbeschränkter Willkür ausartet und im archaischen Rachedenken mündet. Daher geht es den Gewaltbereiten, die nunmal nicht in der Lage sind, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, um nichts Geringeres als die Vertreibung des Islam aus Deutschland. Wen wundert es, wenn doch ständig gepredigt wird, dass das, was man nicht sagen darf, auch gleichzeitig unbedingt richtig sein muss.

ISIS missbraucht den Islam


Immer wieder verhöhnen islamkritische Stimmen die friedliebende Mehrheit der Muslime als „Apologeten“ mit rosaroter Brille, die in ihrer Blindheit die Kehrseite ihrer eigenen Religion nicht sehen. Alles hätte seine guten und schlechten Seiten und auch „der“ Islam wäre von diesem Phämomen nicht ausgeschlossen, heißt es nun. Mehr noch, er sei sogar Schuld an den Konflikten unserer Zeit. Das ist genauso, als würde man dem Wiener Schnitzel die Schuld dafür geben, dass er bei übermäßigem Verzehr auf die Figur schlägt, als würde man dem Internet die Schuld für die Verbreitung von Viren und Cyber-Mobbing geben oder die Eisenbahn für die Verspätungen oder Probleme mit den Klimaanlagen bei der Deutschen Bahn verantwortlich machen.

Extremisten meinen zu wissen, was der „wahre“ Islam sei, und Kritiker akzeptieren ebenjenen Islam, um ihn und 1,6 Milliarden Muslime öffentlichkeitswirksam zu diffamieren. Derzeit morden etwa 30.000 Kämpfer aus Habsucht, Herrschsucht und Ehrsucht unter dem Deckmantel des Islam. Ihre Mittel zum Machterhalt sind Erpressung, Prostitution, Versklavung und Zwangsbekehrung. Dass der „Islamische Staat“ im Widerspruch zu den Lehren des Islam steht, entspringt keiner privaten Ansicht, sondern einer Tatsachenfeststellung derjenigen, die sich mit dem Koran beschäftigen. Die Heilige Schrift der Muslime ist gemäß Eigendefinition „eine Richtschnur für die Rechtschaffenen“ (2:3). Es ist also eine Art Benutzerhandbuch für Menschen, die gewisse moralische und spirituelle Anforderungen zu erfüllen wünschen. Islam-Kritiker zweifeln zwar recht voreilig an dem weisheitlichen Gehalt dieses „Handbuches“, setzen jedoch fatalerweise fest auf die Rationalität und Aufrichtigkeit des Benutzers und ignorieren dabei den sozialen und politischen Kontext, die Verhältnisse, in denen dieser wirkt und dessen Produkt er ist. Erst eine Veränderung struktureller und sozio-ökonomischer Umstände wird den erforderlichen Nährboden für eine Reform der Gesinnungen bereiten. Gleichzeitig müssen schädliche Ideologien durch neue Ideen und Theorien ersetzt werden. Damit sich die beste Idee durchsetzen kann, muss allerdings das vielfältige Angebot stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden.

Warum hören wir denn ständig von dem ISIS-Kalifat, das eine Diktatur religiöser Fanatiker ist, die in völliger Verkennung der islamischen Geschichte das Label „Kalifat“ missbraucht? Müssten wir nicht auch mehr von dem rein spirituellen Kalifat der Ahmadiyya Muslim Jamaat hören, einer friedlichen Reformbewegung mit 120-jähriger Tradition und mehreren zehn Millionen Mitgliedern in über 200 Staaten der Welt? Stattdessen suchen sich Islam-Kritiker Kronzeugen für die Bestätigung ihrer Urteile und finden sie in extremistischen Minderheitenpositionen, während Zeigefinger-Bürger des Westens sie in den radikalen Thesen der Kritiker finden. Wen wir das Podium betreten lassen, entscheidet letztlich darüber, wer die Deutungshoheit über eine ganze Weltreligion gewinnt. Gerade im Westen braucht es daher Foren für einen innerislamischen Dialog, die Differenzen ans Tageslicht bringen und eine offene Debattenkultur fördern. Erst dann wird sich jene Theologie durchsetzen, die einen intellektuellen Zugriff ermöglicht und die Vernunft des Menschen anspricht.

 

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