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Europawahl - Dennoch ein Triumph der Demokratie

Kisslers Konter: Der Siegeszug der Rechtspopulisten und die Wahlabstinenz in Osteuropa sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Europawahl urdemokratisch war: Das Volk hat gesprochen. Demokratie ist eben keine Veranstaltung der Bildungselite

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Auch diese 13 ist keine Glückszahl: Nur 13 Prozent der Stimmberechtigten nahmen in der Slowakei an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil. Im tschechischen Nachbarstaat waren es knapp, in Slowenien und Polen etwas mehr als 20 Prozent. Länder, die vor historisch sehr kurzer Zeit noch diktatorisch regiert wurden, verschmähten das vornehmste Recht der Demokraten, das Wahlrecht. Oder nahmen sie es gerade durch Enthaltung wahr? Denn auch das gehört untrennbar zur Demokratie: das Recht zu schweigen. Es sind ebenfalls Diktaturen mitsamt ihrer gelenkten Demokratie gewesen, in denen die Untertanen Häuserblock für Häuserblock in die Wahllokale gekarrt wurden.

Diese Wahlen waren ein Triumph der Demokratie – sofern unter Demokratie nicht verstanden wird, dass alle sich einig sind. Demokratie meint, dass das Volk die Wahl hat und dass es mittels Wahlen herrscht. Dass die Stimme eines jeden Bürgers gleich viel zählt und dass diese Stimme frei und geheim abgegeben werden darf. Dass sich da niemand einmischt in die Entscheidung, dass jeder und jede unmittelbar vor dem Recht steht. Das sei nicht viel, das sei nur ein formales Prinzip? Das ist sehr viel, das ist beinahe alles, was es zum freiheitlichen, unkriegerischen Miteinander braucht.

Kein Kollateralschaden für die Demokratie


Natürlich ist der Erfolg der griechischen Linksextremen ebenso wenig beifallpflichtig wie der Durchmarsch des Front National in Frankreich, die einen vulgären Staatssozialismus auf streng nationaler Grundlage verficht. Und ob der Sieg von UKIP der traditionell eh EU-skeptischen Politik Großbritanniens gut tut, steht sehr in den Sternen. Doch weil eben die Freiheit der Wahl auch die Freiheit zum Egoismus, die Freiheit selbst zur Unvernunft bedeutet, liegen hier keine Kollateralschäden der Demokratie vor, im Gegenteil. In der Demokratie kommt nur dann Volkes Stimme zum Ausdruck, wenn das Volk reden darf, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Aus demokratietheoretischer Sicht gibt es keine Schmuddelkinder, keine Rattenfänger, keine Populisten. Es gibt nur den mal mehr und mal weniger gelungenen Versuch, Menschen für eine Sache zu begeistern. Und ganz offensichtlich gelingt es derzeit in Italien, die Menschen für die EU zu begeistern, während die Menschen in Ungarn ein Ventil für ihre Vorbehalte suchten. Wer aber aus diesen Ergebnissen den Schluss zieht, es gäbe verschieden Grade demokratischer Reife, der hat die Grundlektion nicht begriffen. Demokratie ist keine Pflanzstation zur Züchtung vorbildlicher Nachkommen. Sie ist auch keine Veranstaltung der Bildungselite und solcher, die sich ihr zugehörig fühlen. Demokratie ist der politische Abdruck des Lebens, schroff und ungeschlacht wie dieses.

Insofern befreit das Wahlergebnis von einigen liebgewonnen Illusionen. Es zeigt teils drastisch, teils erfrischend, teils bedenklich und teils klug, dass das europäische Volk sich den Mund nicht verbieten lässt. Dass es die europäische Sache ernst nimmt, indem es der Politik der Europäischen Union mal die gelbe, mal die rote Karte zeigt, oder aber gelassen applaudiert. Niemand hat je gesagt, dass die Demokratie eine Schönwetterveranstaltung sei bei prallem Bankkonto und guter Verdauung.

Im Parlament wird sich nun zeigen, in welche Melodie die Parlamentarier das Votum übersetzen werden. Sollte es dabei hie und da schrill zugehen, hilft der Blick hin zur Musik. Auch diese ist am Beginn des 21. Jahrhunderts längst vom Ideal des schönen Klangs abgekommen. Eifrig musiziert wird dennoch.

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