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(picture alliance) "Streiten, diskutieren, Entscheidungen treffen"

Ex-SPD-Chef - „Europa braucht demokratische Strukturen“

Franz Müntefering im Gespräch mit dem Cicero über eine Erfindung des Menschen, die Rasanz der Moderne, die Langsamkeit der Demokratie – und ein Europa, dessen Uhr tickt

Herr Müntefering, was ist Zeit?
Zeit ist eine Erfindung der Menschen, so wie der Raum auch. Alle Dimensionen sind Erfindungen des Menschen, um sich orientieren zu können.

Moment mal! Zeit ist eine physikalische Größe, eine Gesetzmäßigkeit, mit der wir rechnen. Wie können Sie sagen, dass wir sie einfach nur erfunden haben, um klarzukommen?
Es gibt sie nicht, die Zeit an sich. Zeit ist nicht absolut, sie ist relativ. Ist sie ein Punkt oder eine Linie? Wir wissen es nicht, wir versuchen, ihr mit Uhren einen Rahmen zu geben. Uhren sind ohnehin eine komische Sache. Sie ticken Punkte und erwecken doch die Illusion, die Zeit sei eine gerade Linie. Es gibt aber keine lineare Zeit.

Warum kommt es uns so vor, als ob unsere Zeit immer knapper wird, obwohl wir immer älter werden?
Was wir gerade erleben, ist eine Neuordnung der Zeit und des Raumes. Und das ereignet sich durch die Geschwindigkeit, durch die Globalität, durch die Mobilität, die wir in den vergangenen hundert Jahren entwickelt haben. Also, Raum und Zeit verändern sich. Das hat es schon immer gegeben, aber das geschieht exponentiell im Augenblick. Früher haben die Menschen in ihrer Sippe gewohnt, und dann entstanden Städte, und dann zog man ins Nachbarland, auch in die Welt hinein. Und heute ist die Globalität da, und die Mobilität, Menschen und Güter und Informationen rund um die Welt transportieren zu können.

Aber der Mensch erfindet doch permanent Maschinen, die helfen sollen, Zeit zu sparen: das Rad, der Motor, die Eisenbahn, das Flugzeug, das Fax, das Handy. Und am Ende hat er erst recht keine. Was läuft da schief?
Die Frage, die wir uns stellen müssen: Was hat das Ganze für eine Wirkung, diese höhere Geschwindigkeit, dieses hohe Tempo in der Zeit? Und es hat eine gewaltige Wirkung auf die Politik, weil es das Zusammenleben der Menschen berührt. Das ist Politik. Die Politik macht sich Gedanken darüber, wie arbeiten, wie leben wir zusammen, wer hat die Macht, wer hat die Aufgabe, diese Dinge zu regeln. Das hohe Tempo hat hier Folgen. 

Sie haben keine Armbanduhr am Handgelenk. Warum nicht?
Habe ich in meinem Leben nie gehabt, doch, einmal kurz, als ich 20 war. Ich mag Uhren nicht besonders. Als Junge habe ich aus einer Uhr mal den Stundenzeiger ausgebaut. Ein Experiment. Ich wollte deutlich machen, dass die Zeit etwas ist, was sich im Kreise dreht an der großen Uhr, ohne dass man genau weiß, wie spät es eigentlich ist. Und dass dieser Spruch „Es ist fünf vor zwölf“ voraussetzt, dass wir zwei Zeiger in Bewegung haben. Wenn es nur einer ist, weiß man das gar nicht mehr. Man sieht nur, wie das weitergeht, man sieht nur, wie das tickt, aber man weiß eigentlich gar nicht so genau, wie spät es ist. Das hat mir immer Spaß gemacht, war ein bisschen auch ein Schabernack und ein bisschen skurril, aber es war mein Spiel mit der Zeit, ja.

Sie haben sehr intensive Jahre in der Politik verbracht, als Vizekanzler, als SPD-Chef. Aus dieser Zeit ist mir ein Satz von Ihnen in Erinnerung geblieben. Er fiel auf einer rasanten Autofahrt, hinten in Ihrem Dienstwagen. Aus dem Fax quollen die Papiere, das Handy klingelte dauernd. Da haben Sie gesagt: „Was fehlt, sind die Tankstellen.“ Was haben Sie damit gemeint?
Dass man mal Ruhe braucht, dass man konzentriert bleiben muss und dass man sich nicht berauschen darf an der Geschwindigkeit. Und dass man dann auf diese Art und Weise, ja, bei sich selbst bleibt und nicht verloren geht in der Geschwindigkeit, in der wir uns bewegen. Das ist nämlich schnell passiert. 

„Eigentlich bräuchte die Politik mehr Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen, um über grundlegende Entscheidungen nachzudenken“, sagt Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Er trifft es genau. Ja, das ist eines der großen Probleme. Ich glaube, an dem, was der Präsident da anspricht, hängt die ganze Frage der Demokratie. Als ich 1975 das erste Mal in den Bundestag kam, da gab es kein Handy, da gab es kein Faxgerät, da gab es drei große Kopierautomaten, und das war es auch. Da herrschte eine ganz andere Geschwindigkeit.

Ist die Demokratie zu langsam für diese schnelle neue Welt?
Demokratie setzt voraus, dass per Wahl beauftragte Menschen Dinge diskutieren, dass sie auch streiten und dann Entscheidungen treffen. Demokratie braucht Zeit, sie braucht eine menschenmögliche Geschwindigkeit, und die gibt es nicht mehr immer. 

Politik nur noch als hilflose Nacheile?
Was jetzt stattfindet an den Finanzmärkten, ist von der Politik nicht mehr beherrscht. Das ist eine der verhängnisvollen Realitäten, die sich mit dem Finanzkapitalismus verbinden. Der Primat der Politik ist nicht garantiert an der Stelle. Deshalb müssen wir Tempo rausnehmen aus der Sache. Demokratie wird nur bestehen können, wenn wir nicht durch die Geschwindigkeit der Ereignisse ihre Handlungsmuster völlig zerstören. Wenn ein Parlament keine Zeit mehr hat zu diskutieren, kontrovers zu diskutieren, zu befragen, auch mal nachzudenken und dann zur Entscheidung zu kommen, wenn das alles nicht mehr geht, dann werden die autokratischen Systeme gewinnen, die auf niemanden Rücksicht nehmen. Die Demokratie wäre dann nicht mehr das Ideal. Bei einem G‑8‑Gipfel hat zu meiner Zeit als Arbeitsminister einmal ein russischer Kollege zu mir gesagt: „Wir gewinnen. Weil wir schneller sind.“ Keine andere Staatsform braucht so viel kalkulierbare Zeit wie die Demokratie. Das ist das Dilemma. Das ist aber auch ihre Stärke.

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Gibt es eine Lösung, wie demokratische Politik wieder in Vorlage kommt? 
Entscheidend ist, dass man eine Dimension hat, die wirkungsmächtig ist. Und Deutschland alleine ist nicht wirkungsmächtig genug. Das haben wir auch damals diskutiert, als es darum ging, auch unsere Märkte zu öffnen für Derivate und derlei, als die Engländer uns gesagt haben: Wenn ihr nicht mitmacht, dann geht das Geld um euch herum, dann ist man halt draußen. Aber Europa mit 400 Millionen Menschen hat das Potenzial, wirkmächtig zu sein. Das sehe ich als die große Chance an, die wir haben, die wir jetzt nutzen müssen: Wenn Europa es schafft zu beweisen, dass einigermaßen legitimierte Demokratien gemeinsam Regeln finden, ohne ein Staat zu sein, mit denen auf diese Geschwindigkeiten der Welt reagiert wird, dann könnte das ein Zeichen sein in die Welt hinein. 

Und wenn nicht?
Wenn Europa das nicht schafft, wenn es zurückfällt in die blanke Nationalstaatlichkeit, dann weiß ich nicht, an welcher Stelle auf unserem Planeten eigentlich die Demokratie noch einen Anschub bekommen könnte. Die Zeichen der Zeit, die Globalität und die Geschwindigkeit, in der alles stattfindet, sprechen gegen die Demokratie, die sich aufs Nationalstaat­liche reduziert. 

Was erwidern Sie denjenigen, die sagen, das wollen wir aber nicht, wir wollen keine Souveränitätsrechte an Europa abgeben?
Es gibt natürlich Angst bei den Menschen vor den Veränderungen. Und die, die das Thema nicht tief genug durchdringen, die sagen: Lasst uns lieber auf uns zurückziehen. Aber das geht nicht. Wir müssen institutionell etwas tun und von der nationalen Ebene Rechte abgeben. Darüber müssen die Völker dann abstimmen. Wir brauchen ganz konkret eine Verfassungsänderung, und über eine solche Verfassungsänderung muss es einen Volksentscheid geben. 

Das schwächt am Ende die nationalen Parlamente.
Es gibt einen Automatismus: In einer so globalisierten und schnellen Welt gewinnen die großen Einheiten und die kleinen an Gewicht. Nicht die Landtage, nicht die nationalen Parlamente, sondern das, was darüber ist, das gewinnt an Gewicht, und die Metropolen, die Städte und Gemeinden, da wo die Menschen zu Hause sind. 

Ein ungeheurer Einschnitt ins deutsche Staatsgefüge.
Ich weiß. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Ich habe in meinem Leben einmal eine vergleichbare Situation erlebt. Das war 1969 bis 1972, als die Ostpolitik von Willy Brandt zu scheitern drohte, als die Mehrheiten zerbröckelten und eigentlich alles dafür sprach, dass diese Politik nicht fortgesetzt würde. Konkret: Dass der Moskauer und der Warschauer Vertrag nicht unterschrieben würden und es auch keine Vereinbarung mit der DDR geben würde. Da haben Willy Brandt und die Sozialdemokraten gesagt, wir machen weiter, den Weg gehen wir weiter. Das kam dann auch so, und die Menschen haben in einer grandiosen Wahl Willy Brandt ihre Unterstützung gegeben, 1972, und darauf fußt viel von dem, was hinterher passiert ist.

War das der Hintergrund für Ihren Appell in der SPD-Bundestagsfraktion, die Europapolitik der Kanzlerin im Prinzip weiter zu unterstützen? 
Ja. Es gibt im Moment ein Ziel, dem sich alle demokratischen Parteien in Deutschland verpflichtet fühlen sollten: Europa muss jetzt gelingen. Und dafür muss man sich einsetzen, dafür müssen sich gerade die Sozialdemokraten einsetzen. Da sind im Moment noch zu viele in der Welt unterwegs, die sagen: Den Euro kriegen wir schon noch platt. Denen muss Europa die Stirn bieten und jetzt die Bereitschaft zeigen, dass man zusammensteht und dass man sich nichts kaputt schießen lässt. 

Bekommen wir so die Vereinigten Staaten von Europa?
Nicht unbedingt. Aber wir müssen oberhalb unserer Nationalstaaten einen europäischen Rahmen finden, der sich möglicherweise mehr am amerikanischen als am deutschen Föderalismus orientiert. Ich glaube, dass die Nationalstaaten eine Rolle behalten, aber dass wir aus den Staaten heraus, und zwar mit demokratischen Methoden, Wege finden müssen, um neue Muster demokratischer Strukturen in Europa und auch weltweit entwickeln zu können.

Welche institutionellen Veränderungen schweben Ihnen konkret vor?
Es kann nicht sein, dass auf Dauer die Regierungschefs, die Präsidenten oder Kanzler wie ein exekutivföderaler Rat agieren. Das ist einfach Unsinn. Jürgen Habermas spricht mit Recht vom Exekutivföderalismus. Die da zusammensitzen, die 27 Chefs, die sind ja für alles Mögliche gewählt, nur nicht um Europa zu regieren. Das Parlament in Europa hat nur bedingt Möglichkeiten, irgendetwas zu tun. Aber die Staats- und Regierungschefs entscheiden, was die Kommission tun soll. Und diese Kommission, das sind Ministerien ohne den Rang eines Ministers, und da schickt jedes Land jemanden hin, ungewählt. Wenn wir das Ganze mal übertragen auf den Föderalismus unseres Landes, dann wäre das so: Die Bundesregierung ist abgeschafft, die Ministerpräsidenten der Länder treffen sich und sagen den Ministerien, ihr macht jetzt mal schön dieses oder jenes. Minister gibt es nicht mehr, und das Parlament ist weitgehend draußen, es wird informiert. Absurd, oder? Aber genauso funktioniert derzeit Europa oder eben gerade nicht.

Also, was tun? 
Wir müssen auf europäischer Ebene größere Verantwortung organisieren. Wie das dann aussieht, ob man das ohne eine Verfassungsänderung machen kann, das weiß ich nicht. Was jetzt beschlossen ist, mag verfassungskonform sein. Aber, wenn man da weitergeht, wenn man wirklich eine europäische Wirtschafts- und Sozialregierung haben will, dann müssen vorher die demokratischen Strukturen eingezogen werden. Am besten vorbereitet in einem europäischen Konvent. Das wird ein langer Prozess sein, für den man sich Zeit nehmen muss. Vielleicht acht bis zehn Jahre. Vielleicht länger. Das geht nicht im Schweinsgalopp. Wir reden von einer unglaublichen Anstrengung, der wir uns aber unterwerfen müssen. Es lohnt sich.

Wieder die Sache mit der Zeit, die uns davonläuft. Werden Sie das Europa erleben, das Sie sich wünschen?
Das weiß man nie. Je älter ich werde, ich bin jetzt 72, umso gelassener und ruhiger bin ich eigentlich dabei in diesem Älterwerden. Also, ich kann von mir aus sagen: Da ist keine Angst vor irgendwas. Tot zu sein, ist nicht schwer. Aber jeder von uns hat nur ein einziges Mal die Chance, hundert Jahre alt zu werden. Also rate ich: möglichst nichts leichtfertig davon aufgeben und es genießen. Es gibt von Ingeborg Bachmann ein Gedicht „An die Sonne“, und die zentrale Zeile heißt: „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein.“ Das gefällt mir. Aber Europa soll sich beeilen. 

Das Gespräch führte der Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke

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