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(Robert Tomala)

Jahresrückblick: - Ein Gedankenspiel: Europa nach dem Euro

CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal die meistgelesenen Artikel aus 2011. Im Februar: Ein Scheitern des Euro oder gar der EU würde nicht das Ende Europas bedeuten. Auch der Frieden bliebe erhalten, weil sich Alpenföderation, nordeuropäische Parlamentsmonarchie und Restdeutschland gegenseitig ergänzten, so skizziert Gunnar Heinsohn die mögliche Zukunft Europas.

Schon bei der Bitte um ein paar Hundert europäische Soldaten scheitert Amerika regelmäßig, wenn es als Nato-Führungsmacht irgendwo in der Welt eine Region befrieden will oder einen Krieg gewinnen muss. In der Tat fällt es den vergreisenden Europäern immer schwerer, die einzigen Söhne oder Töchter in Todesgefahr zu schicken, um fern der Heimat verfeindete Glaubensgenossen davon abzuhalten, sich gegenseitig wegen Sektierertums zu massakrieren und ganze Staaten zu ruinieren.

Und doch befallen dieselben Europäer heftige Kriegsängste, wenn jemand den Euro oder gar die Europäische Union infrage stellt. Beide Konstruktionen hält man für Errungenschaften zur Beendigung der Kriege, die den Kontinent jahrhundertelang heimgesucht haben.

Diese Vorstellung wirkt so unerschütterlich und furchterregend, dass sie vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble genauso leidenschaftlich beschworen wird wie von Günter Verheugen. Der Brüsseler Insider und Ex-EU-Kommissar sieht die Europäische Union selbst „65 Jahre nach Kriegsende“ als Verkörperung der Angst, dass Deutschland „nicht zur Gefahr wird“. Mit ihm glaubt fast die Hälfte der Bevölkerung, dass die EU aus der Friedenssicherung ihre wichtigste Legitimation gewinnt. Selbst die Financial Times, ansonsten zu einem kühlen Blick durchaus fähig, will die einzige Leistung der EU darin erkennen, dass ihre Mitglieder „nicht mehr gegeneinander in den Krieg ziehen“. Auch Helmut Kohl und François Mitterrand haben das nicht anders gesehen. Selbst in Stuttgart oder München, wo man mit wachsendem Entsetzen die sauer erarbeiteten Milliarden in den bodenlosen Fässern Bremen oder Berlin verschwinden sieht, wollen gerade die Besonnenen lieber auch noch für Dublin und Athen zahlen, als wieder gegen Frankreich oder Polen ausrücken zu müssen.

Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Erst die Kriegsunfähigkeit Europas nach 1945 hat seine Einigung ermöglicht. Angriffskriege hören ja nicht auf, weil die Beteiligten nach 500 Jahren genug davon haben. Fast immer in der Geschichte werden Gesellschaften dann friedlich, wenn sie keine disponiblen Söhne mehr verbrauchen können. Hätte sich der Kontinent seit 1920 so schnell vermehrt wie seither die USA (von 106 auf 310 Millionen), stände man heute – nach knapp 500 Millionen damals – nicht bei gut 700 Millionen, sondern bei 1,4 Milliarden Menschen und wäre die unangefochtene Nummer eins vor China und Indien.

Hätte sich das imperiumslose Deutschland seit 1950 so kräftig vermehrt wie vor 1900, dann stände man nicht bei 82 Millionen mit einem Durchschnittsalter von 44 Jahren, sondern bei 530 Millionen mit einem Durchschnittsalter von 16 Jahren. Statt 7,5 Millionen gäbe es 75 Millionen wehrfähige Männer. Würden diese Männer aus Liebe zu den Römischen Verträgen zehnmal so viel Pazifismus in die Welt tragen? Wohl kaum. Welche Verträge hätten solche Mega-Armeen in Ketten legen können?

Die alte Welt barg 1450 gerade einmal 50 Millionen Einwohner, nachdem 30 Millionen an der Pest gestorben waren. Da die hoch entwickelte Geburtenkontrolle des Mittelalters mit lediglich zwei bis drei Kindern fortgesetzt wurde, dauerte die demografische Stagnation der europäischen Bevölkerungskatastrophe bis zum Ende des 15.Jahrhunderts. Weltliche und kirchliche Lehnsherren wollten den Verlust ihrer Leibeigenen allerdings nicht hinnehmen und töteten schon ab 1360 unter dem Vorwand der Hexerei Hebammen, weil sie von jeher nicht nur beim Gebären, sondern auch beim Verhüten halfen. Da die Pest von Portugal bis China wütete, konnte die „Repeuplierung“ nicht durch Einwanderung, sondern nur mithilfe der europäischen Frauen gelingen. Deshalb – und nunmehr europaweit – dekretierte Papst Innozenz VIII. 1484 mit der „Hexen-Bulle“ die Todesstrafe für „Personen beiderlei Geschlechts/, welche die Geburten der Weiber umkommen machen und verursachen,/dass die/Frauen/nicht empfangen.“

Das war der Anfang der europäischen Geburtenexplosion. Ein Beispiel: 100 englische Väter hinterlassen 1441 bis 1465 gerade 110 erwachsene Söhne. 1491 bis 1505 sind es über 200 und bald danach sogar 300. Mit sechs bis sieben überlebenden Kindern pro Frau wird eine welthistorisch nie gekannte Gebärleistung erreicht. Als Spanien 1492 seine Eroberungen beginnt, hat es weniger Einwohner als 1348 vor der Großen Pest. Doch damals lag das Durchschnittsalter weit über 30, nun hingegen deutlich unter 20. Secundones, Zweitgeborene nennt man deshalb in Madrid und Cadiz die nur zu gerne verabschiedeten Konquistadoren.

Ununterbrochen standen in Europa zweite bis vierte Söhne für Bürgerkriege und Kriege daheim sowie für Eroberung, Ausrottung indigener Bevölkerungen und für die Besiedlung von neun Zehnteln der Erde zur Verfügung. Ungeachtet aller Verluste wuchs nebenher der eigene Kontinent zwischen 1500 und 1916 von 60 auf 500 Millionen Menschen. So eisern wurde die Geburtenkontrolle tabuisiert und bestraft, dass selbst die Mächtigsten nicht konnten, was heute halbwüchsige Mädchen mehrmals pro Woche schaffen. Friedrich der Große war eines von 14 Kindern, Kaiserin Maria-Theresia brachte 16 zur Welt, und Napoleons Mutter lag 13 Mal im Kindbett. Noch Queen Victoria, die erst 1901 gestorbene Herrscherin des Britischen Weltreichs, verschliss sich in 18 Jahren durch neun Geburten.

Die alte Frage, warum nicht die menschenreichen Giganten Asiens, sondern die Europäer die Erde unterwarfen, beantwortet sich unter anderem mit dem sogenannten „youth bulge“ (Jugendüberschuss). Dabei standen von 100 männlichen Einwohnern 30 bis 45 Prozent im Alter von 15 bis 29 Jahren (2008 sind es in Deutschland nur noch 17 Prozent). Einer von drei, vielleicht auch einmal zwei von vier Brüdern mochten recht oder schlecht untergekommen sein. Die anderen gingen meist dieselben sechs Wege: (1) Auswanderung, also unblutige Kolonisation, (2) Kriminalität, (3)  Putsch/Staatsstreich, (4) Bürgerkrieg/Revolution, (5) Vertreibung/Völkermord daheim sowie (6) Krieg und blutige bis genozidale Kolonisation. Natürlich spielten Europas zinsgetriebene Innovationen der Eigentumsökonomie ihre Rolle. Aber selbst modernste Schiffe und Kanonen verführten nicht dazu, den einzigen Sohn zum Kolonisieren wegzuschicken und dadurch die Heimat auszulöschen. Der Siedlerspruch „den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot“ illustriert unmissverständlich, dass kraft demografischen Überschusses operiert wurde.

Erst 1916, mitten im Großen Krieg, verschwinden die europäischen „youth bulges“ durch eine Halbierung der Geburtenraten von rund 36 auf 18 Kinder pro 1000 Einwohner. Gegen 1985 ist eine neuerliche Halbierung auf acht bis zwölf Kinder abgeschlossen. Insgesamt geht es – rund gerechnet – in Europa von sechs über drei auf 1,5 Geburten pro Frauenleben hinab. Schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 aber wird „aus der Substanz“ gestorben – jeder sechste deutsche Gefallene beim Angriff auf Polen endete als einziger Sohn. 
Nach 1945 verlieren die Europäer fast jeden Krieg. Die demografische Asymmetrie hat sich gedreht. Während bis in die dreißiger Jahre Aufstände in Übersee durch frische Truppen aus eigenen dritten und vierten Söhnen niedergeschlagen werden, kann nun die Gegenseite so gut wie grenzenlos rekrutieren. Bei den Mächtigen von gestern hingegen begibt sich selbst der mit Hightechwaffen herausgehende Soldat als einziger Sohn oder gar einziges Kind in Lebensgefahr.

Die alliierten Sieger brauchen nach 1945 länger als die Unterlegenen für das Erfassen ihrer Schwäche. Der Triumph über die deutschen, japanischen und italienischen Großreiche scheint eine Rückkehr zur überkommenen Weltordnung ja auch nahezulegen. Doch beim Versuch der Neuunterwerfung der bereits verloren geglaubten Besitzungen wird umgehend deutlich, dass es an kämpfendem Personal mangelt. Ähnlich wie nordamerikanische Indianer, die nach Massakern durch Weiße oder ihresgleichen aus den Überlebenden bislang feindlicher Ethnien durch gegenseitige Adoption einen letzten neuen Stamm bilden, suchen jetzt auch die ehemaligen Herren der Welt aneinander Halt. Dabei verpufft etwa die angebliche Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland über Nacht. Als Paris am 7.Mai 1954 Indochina endgültig verliert, gehen seine Fallschirmjäger gemeinsam mit Soldaten der Waffen-SS unter. Fast drei Jahre vor den Römischen Verträgen haben von beiden Seiten des Rheins die härtesten Verbände, also Kolonialsoldateska und Totenkopforden, jetzt im Tuch der Fremdenlegion gemeinsam gekämpft und trotzdem verloren. Was aber nach außen nicht mehr gelingt, funktioniert daheim erst recht nicht mehr. Die Verträge können die Unfähigkeit zu großen Kriegen nur abstempeln.

Ob nach chaotischem Scheitern oder geregelter Überwindung der Euro-Krise durch Abschaffung der Gemeinschaftswährung und ihrer Hüterin, der Europäischen Zentralbank: Der Frieden würde halten, dafür aber würden die Haftungs- und Versorgungspflichten gegenüber anderen Nationen entfallen; ihre Infrastruktur müsste nicht mehr finanziert werden, während die eigene verrottet. Ihre Staatsbankrotte müssten nicht mehr durch Megabeträge abgewendet werden. Ihre Einwohner würden in der hiesigen Sozialhilfe kein lebenslanges Recht auf Versorgung mehr genießen. Und das alles wäre doch wirklich nicht weltbewegend. Denn solche Haftungs- und Versorgungspflichten fehlen ja auch heute schon gegenüber Afrika, Amerika, Asien, Australien-Ozeanien und selbst gegenüber alten Kriegsgegnern zwischen Polens Ostgrenze und dem Ural. Wer würde deshalb ernsthaft glauben, dass Deutschland gegen diese Kontinente oder gar gegen die früheren slawischen Gegner jederzeit losschlagen könnte?

Entfallen würde also die einzige Zentralbank, deren Direktoren Geld für ein Tauschgut halten und den Zins für seinen Preis, durch dessen Absenken man Firmen und Arbeitskräfte mit Liquidität fluten könne. Die alt-neuen Zentralbanken, die an die Stelle der Europäischen Zentralbank träten, würden verstehen, dass Geld eine Forderung gegen das Eigentum ihres Hauses ist, das bei der Emission belastet wird und dabei seine Verfügungsfreiheit verliert. Sie wüssten, dass Zins für eben diesen Verlust an temporärer Verwendungsmacht gefordert wird und der Verzicht auf ihn ihre Institute um ihren Gewinn bringt, den sie wie jede andere Bank für ihr Überleben braucht. Die neuen Banker wüssten, dass schlechte Staatspapiere weder als Pfand akzeptiert noch direkt angekauft werden dürfen, weil diese Ausgaben wegen Nichtbedienbarkeit der Titel aus dem Eigenkapital glattgestellt werden müssen, was auch eine Zentralbank in den Bankrott treibt und ihre Neubeschickung mit Eigentum erfordert. Und sie wüssten, dass der Aberwitz des Nullzinses den Firmen nichts bringt, dafür aber die Geschäftsbanken zur Blasenbildung auf den Vermögensmärkten verführt. Firmen benötigen für die Investition innovative Ideen und Pfandmasse. Beides kann weder von Zentralbanken noch von Geschäftsbanken bereitgestellt werden.

All diese Trennungen würden so unblutig verlaufen wie der Abschied der Tschechen von den Slowaken. Was aber würde nach dem Abschied von einem Voodoo-Euro alles erhalten bleiben? Der freie Warenverkehr, die Freiheit grenzüberschreitender Unternehmensgründungen, der visafreie Reiseverkehr, das Recht auf Auswanderung und auch der Zugang zu legalen Einbürgerungsprozeduren. Bleiben würden überdies in modifizierter Form Nato-Bündnispflichten. Norwegen (freiwillig nicht in der EU) und die Türkei (unfreiwillig nicht dabei) gehören ja auch heute so selbstverständlich dazu wie die fernen Nordamerikaner. Bleiben könnte sogar der Gemeinsinn stiftende Währungsname. Wie es Neuseeland- oder Kanada-Dollar gibt, so gäbe es dann eine Reihe von Euro-Währungen.

Die liebenswerte Ahnungslosigkeit, mit der Politiker und Wirtschaftsweise den Beweis deutscher Friedfertigkeit dadurch erbringen wollen, dass die Bundesrepublik über Euro-Bonds für die Schulden aller Europäer in Haftung tritt, lebt wiederum vor allem von demografischer Ignoranz. Irland wird auch nach dem Staatsbankrott eine passable Produktionsbasis behalten. In Griechenland werden nach dem gleichen Schock immer noch Millionen Fremde für ihre Sommer oder gar ganze Lebensabende immer wieder Milliarden riskieren. Doch schauen wir einmal auf den Randgürtel von Estland bis an die hellenische Grenze und konzentrieren uns dabei auf exemplarische Meister der Schrumpfvergreisung, also Litauen und Bulgarien mit 1,2 Kindern pro Frau, wuchtiger Abwanderung und bar jeglicher Einwanderungsattraktivität. Letztere sacken zwischen 1990 (Fall des Kommunismus) und 2050 von neun auf 4,5 Millionen Einwohner. Die Balten schaffen sich von 3,7 herunter auf 1,7 Millionen in der Tat sukzessive ab.

Doch selbst diese Berechnungen fallen zu optimistisch aus, weil die wenigen noch Geborenen für die Zukunft einfach hochgerechnet werden, obwohl gerade die Beweglichsten unter ihnen die Implosion der Heimat nicht aussitzen, sondern beizeiten abwandern. Zurück bleibt eine Restbevölkerung mit einem Durchschnittsalter oberhalb von 50 Jahren – überwiegend zu Versorgende, also Rentner und Unqualifizierbare nebst Anhang. Ihr Unterhalt kann nur durch die Aufnahme von Staatsschulden bezahlt werden. Die Preise dieser Titel aber finden nach unten keinen Halt, weil niemand angeben könnte, wer auf dem Balkan oder im Baltikum solche Titel später einmal bedienen sollte. Selbst Ökonomie-Nobelpreisträger würden hier zweimal nachdenken, bevor sie keynesianische Investitionsmilliarden und Trainingsprogramme für das Erlangen globaler Konkurrenzfähigkeit vorschlagen.

Aber leben müssen die Alten in diesen Ländern auch. Dasselbe gilt für Lettland, Estland, Rumänien oder den alsbaldigen EU-Kandidaten Ukraine sowie viele anderen Staaten der alten Welt. Die irgendwie ja auch sympathische Zuversicht der Brüsseler Eliten, dass zwei Greise einen Sprinter abgeben, bringt ja immer noch mehr Überalterungsgebiete – alsbald Kroatien, Mazedonien und Serbien – an den nach Berlin verlängerten Tropf der EU. Da kommen schnell 70 Millionen Hilfebezieher zusammen, gegen die man unsere sieben Millionen Hartz-Vierer einmal als gemütliche Idylle erinnern wird.

Da etliche der Besten aus den demografisch unrettbaren Gebieten rechtzeitig in Deutschland anheuern, sind die Anklagen von morgen programmiert: Da ihr unsere Jugend genommen habt, wird man zu hören bekommen, müsst ihr jetzt auch für unsere Alten sorgen.

Wir können doch auch helfen, wird es dann wieder von Bremen bis Berlin tönen. Aber womit denn? Weil wir mit unserer Einwohnerzahl bis 2060 von 82 auf 65 Millionen absinken, also nur 21 Prozent verlieren und nicht 54 Prozent wie Litauen schon bis 2050? Dafür erreichen wir aber ein Durchschnittsalter von 54 Jahren gegen knapp 50 bei den Balten. Und das alles gelingt nur, wenn wir bis 2060 pro Jahr nicht nur 700, sondern 100000 Hochqualifizierte gewinnen und statt 150000 guten Kräften jährlich nicht einmal mehr eine ans Ausland verlieren.
Die Kriegsphobie bei Euro-Verlust bleibt in sich durchaus konsequent, wenn sie Euro-Kritiker als eifernde Nationalisten hinstellt. Doch für solche Anwürfe spricht wenig. Wenn beispielsweise 48 Prozent im deutschen Südwesten am liebsten zur Schweiz gehören würden, dann haben diese Deutschen die Abwendung nicht nur vom Nationalismus, sondern sogar vom Nationalstaat innerlich längst vollzogen. Sie ähneln den alten Danzigern, die sich 1454 unter die polnische Krone stellen, um nicht mehr den Müßiggang des Deutschritterordens finanzieren zu müssen. Sie sprechen Deutsch, aber Deutschnationales ist ihnen so fremd, dass sie sich noch 1793 erbittert der Eingemeindung durch Preußen widersetzen. Die Badener ähneln aber auch Italienern der Poebene, deren Vorfahren 1870 unter Garibaldi für die Heimführung von Neapel und Palermo starben und heute leichten Herzens eine neue Nation „beider Sizilien“ akzeptieren würden, bei der auch die Iberer wieder mitmachen könnten – das Ganze nicht weniger malerisch, aber viel moderner und ohne die legendären Nachwuchsscharen für Straßenkinderelend, Jugendbanden und Kanonenfutter.

Wer könnte neben Baden-Württembergern und Eidgenossen bei einer erst einmal skurril anmutenden Föderation noch dabei sein? Bayern, Österreich, Norditalien und Slowenien  – mit Hessen, Savoyen, Sachsen, Tschechien sowie Marken, Toskana und Umbrien im Wartestand. Baden-Württemberg und Bayern umfassen 24 der 30 dynamischsten Landkreise der Bundesrepublik. Die Schweiz steht – vor Japan und Schweden – 2009 auf Platz 1 der globalen Innovationsrangliste der OECD. Die Ausgangsinitiative des Schweizer Politikers Dominique Baet­tig von der SVP hat knappe Mehrheiten bereits im französischen Savoyen-Hochsavoyen, im österreichischen Vorarlberg sowie in Norditalien bei den Bürgern von Como und Varese gefunden. Überraschen kann das nicht, wenn – nach einer Untersuchung von Soziologen der Universität Bielefeld für Readers Digest – 67 Prozent der Schweizer, aber nur 29 Prozent der Deutschen und 34 Prozent der Österreicher Hochachtung für ihr demokratisches System empfinden.

Slawische, romanische und deutsche Sprachgruppen kämen hier freiwillig zusammen. Auch sie würden einer Not gehorchen, weil sie die eigene Auszehrung stoppen wollen – nicht weniger eigennützig als andere, aber eben auch nicht mehr als die Hauptzahlmeister. Die Frauen dieser Gebiete haben heute statistisch nur 1,2 bis 1,4 Kinder. Aber die Föderation könnte die Steuersysteme umstellen, den Menschen 70 bis 80 Prozent ihrer Einkommen in den Taschen lassen – statt jetzt regional gerade 45 bis 60 Prozent. Dann könnten die Geburtenzahlen von ganz alleine 1,8 oder mehr erreichen wie jetzt schon in Australien/Neuseeland oder den USA, wo direkt fürs Kinderhaben fast gar nichts gezahlt wird, den Menschen aber mehr Geld und damit Souveränität über ihre Familienplanung gelassen wird.

Das demografische Problem wäre so fast schon gelöst. Für den Rest würde die Föderation sich endlich klar positionieren können im unvermeidlichen Kampf um ausländische Talente. Sie hätte nicht nur mit ihren Großbetrieben, sondern vor allem mit ihren weltweit führenden Familienunternehmen sehr passable Chancen. Denn die Familien geben für die Eigentumsverteidigung – als Kern allen Wirtschaftens – der langfristigen Produktionsverschuldung allemal den Vorrang vor der kurzfristigen Spekulationsverschuldung und sind eben deshalb auch besser durch die Krise gefahren als die Großen. Gesamtökonomisch wäre die Alpenföderation global die Nummer vier hinter den USA, China und Japan, noch dazu mit dem Potenzial für eine signifikante Reservewährung.

Mit ihren 70 Millionen Einwohnern auf rund 450000 Quadratkilometern könnte die Föderation mindestens so ambitioniert wie etwa Australien (23 Millionen) oder Kanada (35 Millionen) agieren, aber wie diese Nationen zugleich einen inneren Raum der Toleranz bilden. Sie würde – wie in den Teilgebieten ja schon jetzt – Könner aller Religionen, Sprachen und Hautfarben umfassen und auch weiterhin willkommen heißen.

Eine solche Föderation von Freiwilligen würde sich keineswegs für alle Zeiten abschließen müssen. Die Tür bliebe offen für andere, die vielleicht erst auf sich gestellt endlich die Reformen in Angriff nehmen würden, die aufgrund der unendlichen Subventionsketten bisher immer wieder scheitern. Deren Eliten und ihre Anhänger aus den ökologistischen, sozialistischen und multikulturalistischen Lagern könnten ungehindert durch Liberale und Konservative endlich zeigen, dass sie keineswegs nur einen absahnenden Populismus pflegen, sondern etwas wirklich Haltbares und Nachahmenswertes vor die Menschheit zu stellen vermögen. Eine Art Norddeutscher Bund könnte dabei entstehen – einmal mehr angeführt durch Berlin, das mit 600000 Hilfebeziehern bei gerade noch 95000 Beschäftigten in der Industrie aber viel weniger dominant aufträte. Einer Deutschenangst – selbst als bloßem Fantasiegebilde – wäre ein für alle Mal der Boden entzogen. Gleichwohl würde ein Wegfall der Brüsseler Fleischtöpfe den Raum zwischen Oder und Russland in eine Neuorientierung nötigen. Dass dabei zur 1793 zerschlagenen Rzeczpospolita (Litauen, Polen, Weißrussland, Ukraine) zurückgefunden werden könnte, mag abenteuerlich anmuten. Mit einer Zentrale in Lemberg, das die Ukraine als Lwiw hat und das Polen als Lwów immer noch betrauert, könnte man am Ende aber doch ins Gespräch kommen.

Doch zurück zum deutschen Restgebiet – vielleicht weiter in enger Bindung an Frankreich und Wallonien! Es könnte ganz praktisch den Beweis erbringen, dass Kinder aus jeder Ecke der Erde Asse in Mathematik werden, wenn sie nur die revolutionär neue deutsche Krippenerziehung absolvieren. Sie könnte ihr demografisches Problem dann tatsächlich durch Einwanderung lösen, denn in Afrika und im Islambogen warten längst viele Hundert Millionen Menschen darauf, dafür herangezogen zu werden.

Wenn dann die Kinder von jenseits des Mittelmeers bei Pisa und den Mathematikolympiaden den Nachwuchs Ostasiens in den Schatten stellen, wird der internationalistische Stern dieses Bundes noch heller strahlen als die Krone einer ja immer noch sehr europäiden Alpenföderation.

Noch stärker als vom Alpenraum würde sich die subventionsorientierte Gruppe unterscheiden von einer weiteren Föderationsträumerei, die vom Brüsseler Fiasko und vom taumelnden Euro ebenso inspiriert wird wie von der Abwesenheit Skandinaviens bei den G 7 und den G 20. Es geht um eine parlamentarische Nordmonarchie. Sie reicht von Island über Grönland, Färöer und Spitzbergen bis nach Festlandskandinavien – mit ausgestreckter Hand vielleicht einmal bis nach dem einst dänischen Hamburg-Altona sowie nach den Niederlanden und Flandern als Exklave. Sie würde vorrangig germanische und finno-ugrische Sprachen umfassen. Auf knapp 3,5 Millionen Quadratkilometern hätte sie mit 26 Millionen Einwohnern eine größere Bevölkerung als Australien und Neuseeland zusammen, denen auch niemand ihre Existenzfähigkeit abspricht. Beim Bruttoinlandsprodukt wäre man stärker als Brasilien, Indien, Kanada, Russland oder Spanien. Beim Geld zeigen die Schweden mit ihrer geplanten Kontrolle der Inflation von Vermögenspreisen, dass sie die Regeln der Zentralbankkunst einhalten wollen.

Demografisch stände die Föderation von vornherein besser da als Resteuropa, weil im nordischen Modell extrem hohe Steuern einen Staatssektor finanzieren, der überwiegend Frauen beschäftigt, die dadurch nach einer Geburt immer wieder in ihre feste Stellung zurückkönnen. Das bringt einen Zugewinn von zwei bis vier Zehntel Geburten pro Frauenleben.
Nach der Vorstellung des schwedischen Historikers Gunnar Wetterberg könnte diese Neuauflage der Kalmarer Union (1397 bis 1523) von der dänischen Königin Margrethe II. repräsentiert werden, weil ihre Vorgängerin Margrethe I. (1343 bis 1412) damals Königin jener Vereinigung war. Aber das bleibt eine für die Sache nicht essenzielle historische Sentimentalität. Gleichwohl ist es sicher kein Zufall, dass gerade Dänemark an der Südgrenze längst erstaunliche Maßnahmen für die Sicherung des gesamten Raumes getroffen hat. Denn der Glaube an den Segen einer Bevölkerungsverschiebung unter der Fahne des Propheten schwindet dort nicht nur auf konservativer Seite. Sozialhilfe gibt es deshalb erst nach Vollverbrauch des eigenen Vermögens, für Ausländer in voller Höhe aber auch dann erst nach sieben Jahren legalem Aufenthalt. Wer ein Familienmitglied nachholen will, muss Arbeit, Wohnung und 14000 Euro für mögliche Soziallasten auf dem Konto haben. Menschen über 60 dürfen gar nicht einwandern. Die dänische Staatsbürgerschaft gibt es frühestens nach acht Jahren legalem Aufenthalt und nur, wenn keine Sozialhilfe in Anspruch genommen wurde.

Auch den Skandinaviern würde es also mehr um eine Gesellschaft der Leistungsbereitschaft als der Hilfegewährung gehen. Auch sie könnten zu einer Fluchtburg für Bürger aus transferorientierten Territorien werden, also gerade aus ihrer Vereinigung sehr viel mehr gewinnen als nur die Summe ihrer Teile. Dabei ist etwa an Juden aus den stärker islamisierten Räumen zu denken.

Wenn schon heute beträchtliche Minderheiten in Europa von neuen Föderationen träumen, so gelingen ihnen bisher nur Bilder einer Sehnsucht gegen das überkommene Durchwursteln. Für ihre Konkretisierung braucht es noch stärkere Dosen der Euro-Rettungsmedizinen. Aber bereits die Ankündigungen aus dem Finanzministerium, dass Deutschland ein eigenmächtiges Brüsseler Schuldenmachen großen Stils (Euro-Bonds) nicht vollkommen ausschließt, sowie die Trippelschritte der Kanzlerin hin zu einer europäischen Wirtschaftsregierung haben die bisher konkurrenzlos günstige Versicherung deutscher Staatsanleihen vom global ersten auf den siebten Platz abstürzen lassen. Dass gerade die Schweizer im Zentrum einer möglichen Alpenföderation und vier skandinavische Länder einer möglichen Nordföderation jetzt besser dastehen, kann manchen Blick nur weiter schärfen.

Wenn erst einmal die ganze Packung verabreicht wird, also rot-grün-rote Regierungen in Bund und Ländern die Überweisungen an die Ränder innen und außen noch einmal anheben, werden die Versicherungsprämien gegen einen deutschen Staatsbankrott den Höhen Griechenlands und Irlands entgegenstreben.

Das könnte der Moment sein, in dem die bisher nur eskapistischen Skizzen einer europäischen Neuordnung zu bedenkenswerten politischen Programmen werden. Dann dürfte sich erweisen, dass gerade nicht nationalistisch verengte, sondern beschwingt grenzüberschreitende Richtungen Europas Bürgertum zu gewinnen vermögen. Es hat mehr Optionen als reaktionäres Verrennen und still leidendes Abrutschen. Gerade weil die Europäische Union kein Imperium ist, sondern ein Sozialhilfebündnis, das auch seine Abgeschlagenen einbindet, lässt sie sich auch wieder kreativ zerlegen. Jene, die das als Separatismus schmähen wollten, erwiesen sich als die wirklichen Nationalisten.

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