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Agenda 2010 - Die verleugnete Erfolgsgeschichte der SPD

Vor zehn Jahren verkündete Gerhard Schröder die umfangreichste Sozialreform in der Geschichte des Landes, heute wollen die Sozialdemokraten von der Agenda 2010 nichts mehr wissen. Das ist ein großer Fehler. Erst wenn sie sich mit ihrer Reformpolitik versöhnt haben, werden sie das Land wieder regieren können

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Gerhard Schröder war ein Getriebener. Die Staatskassen leer, die Arbeitslosenquote auf Rekordniveau gestiegen – in Europa galt Deutschland als „kranker Mann“. Schröder hatte also gar keine andere Wahl, als die Flucht nach vorne anzutreten. Also sprach der Kanzler der rot-grünen Bundesregierung von der „Verantwortung für die Zukunft“ und vom „Mut zur Veränderung“. Er kündigte die Kürzung staatlicher Leistungen an und erklärte, niemandem werde es zukünftig noch gestattet sein, „sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen“. Harte Töne waren dies. Nie zuvor und nie wieder danach waren solche im Deutschen Bundestag zu hören, nicht einmal von der Wirtschaftspartei FDP. Gerhard Schröder schrieb Geschichte.

10 Jahre ist das her. Am 14. März 2003 präsentierte der damalige Bundeskanzler in einer Regierungserklärung seine Agenda 2010 und damit den umfangreichsten sowie zugleich umstrittensten Umbau des Sozialstaates in der Geschichte des Landes. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden zum Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zusammengelegt, die Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsvermittlung wurden verschärft, die Zeitarbeit erleichtert und die Ich-AG erfunden. Später in der Großen Koalition kam noch die Rente mit 67 hinzu.

Die Folgen sind bekannt, es gab Massenproteste und aufgewühlte gesellschaftliche Debatten. Die SPD nahm nachhaltig Schaden, Rot-Grün verlor 2005 die Macht. Hartz IV wurde zum Synonym für eine vermeintlich unsoziale Politik, ein Teil der SPD rebellierte. Abtrünnige Genossen gründeten eine neue Partei, die Wasg, die dann in der Partei „Die Linke“ aufging. Das Fünf-Parteiensystem erlebte seinen endgültigen Durchbruch. In der Wählergunst stürzten die Sozialdemokraten tief. Bis heute haben sie sich davon nicht erholt, die Partei ist weiterhin gespalten zwischen Anhängern und Gegnern der Schröderschen Agenda-Politik. Wie ein Mühlstein hängt ihr diese am Hals.

Dabei könnte die SPD eigentlich stolz auf ihre Reformpolitik sein. Massenhafte Armut hat es mit der Einführung von Hartz IV nicht geben, trotz der Etablierung eines Niedriglohnsektors und trotz Ausweitung der prekären Beschäftigung. Im Gegenteil: Es gab vor allem mehr Beschäftigung und mehr Wachstum, die Flexibilisierung der Arbeitswelt hat deutsche Unternehmen international konkurrenzfähiger gemacht, die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich auf etwa 1 Million fast halbiert. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme haben Armut und Armutsrisiko in den letzten sieben Jahren nicht zugenommen. Nachdem die Armut in Deutschland in dem Jahrzehnt zuvor angestiegen war, ist sie infolge der schröderschen Reformen in etwa gleich geblieben.

Die Agenda 2010 ist also eine Erfolgsgeschichte. Die SPD könnte sich zum Jahrestag feiern lassen und zugleich selbstbewusst auch über Fehler und Fehlentwicklungen sprechen. Die können bei einem so umfangreichen Umbau des Sozialstaates gar nicht ausbleiben. Die SPD könnte notwendige Korrekturen, etwa die Einführung von Mindestlöhnen, als Weiterentwicklung der Agenda 2010  präsentieren und damit als Kern einer Regierungspolitik in den kommenden vier Jahren. Sie könnte im Wahlkampf demonstrieren, dass sie an die erfolgreichen Schröder-Jahre anknüpfen will und der zaudernden Kanzlerin Merkel in einem zentralen Politikfeld die Show stehlen.
Stattdessen macht die SPD den Eindruck, als würde sie sich für die Agenda 2010 schämen. Die Sozialdemokraten schweigen, drucksen herum, versuchen die Agenda zu verdrängen oder umzuinterpretieren. Die Mehrzahl der Genossen blicken eher kritisch auf die Schröder-Jahre zurück, verweist weder alle wissenschaftliche Erkenntnis auf die zunehmenden Armutsprobleme, die die Reformen dem Land beschert habe. Mehr als ein Pflichtprogramm und ein paar Interviews gibt es deshalb zum Jahrestag nicht. Zwar ist Gerhard Schröder am Dienstag Gast der Bundestagsfraktion. Doch obwohl die SPD mitten im Wahlkampf steckt, gibt es keine Festveranstaltung, nicht mal eine große Konferenz.

Für den Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, der vor zehn Jahren als Kanzleramtschef zu einem der geistigen Väter der Agenda zählte, verbietet sich Stolz. Als Peer Steinbrück Ende vergangenen Jahres zum SPD-Kanzlerkandidaten gekürt wurde, widmete er der damaligen Reformpolitik nur sehr wenige Sätze, obwohl er damals Finanzminister war. Die Worte „Agenda 2010“ kamen ihm gar nicht über die Lippen. Generalsekretärin Andrea Nahles betont in diesen Tagen vor allem die „Übertreibungen“ der schröderschen Reformpolitik und Parteichef Sigmar Gabriel versucht gar, der Agenda 2010 völlig neue Inhalte zu geben. Er sei „stolz“ auf die Agenda 2010, sagt er im Spiegel-Online-Interview. Doch dann erklärt er, die Agenda sei das „erste große Ganztagsschulprogramm in Deutschland, der Durchbruch bei den erneuerbaren Energien, der Ausbau der Investitionen in Forschung und Entwicklung“ gewesen. All das war die Agenda 2010 eben nicht. Erst anschließend spricht er über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und ist dann aber auch schnell wieder bei den „Fehlern der Agenda“.

Folglich setzt die SPD in dem Entwurf ihres Wahlprogramms, das der SPD-Vorstand an diesem Montag verabschiedet, nicht auf eine Agenda 2020, sondern wieder auf eine traditionelle Umverteilungspolitik. Sie fordert einen Mindestlohn und eine Mindestrente, höhere Steuern für Gutverdienende und Vermögende. Die Erkenntnis, die der Agenda 2010 zugrunde lag, die Erkenntnis, dass Sozialpolitik im 21. Jahrhundert nicht mehr nur Umverteilungspolitik sein kann, sondern es auch auf die Qualität des Sozialstaates ankommt, auf Bildungschancen, auf Mobilität oder gute Kinderbetreuung ist wieder in den Hintergrund getreten. Von „Fordern und Fördern“ oder einem „vorsorgenden Sozialstaat“ ist bei der SPD keine Rede mehr.

Ihre Wahlchancen verbessert die SPD so nicht, im Gegenteil. Mit ihrer Umverteilungsrhetorik macht die SPD einerseits die Linke stark. Andererseits treibt sie so bürgerliche Wähler, die mit der schwarz-gelben Regierung hadern, in die Arme der Grünen. Aus dem Tief in der Wählergunst kommt die Partei so nicht heraus. Der völlig verkrampfte Umgang mit Schröders Reformpolitik lähmt die Sozialdemokraten. Das Land werden sie vermutlich erst dann wieder regieren können, wenn sie sich mit der Agenda 2010 versöhnt haben.

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