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Die Schwarze Null - Schäubles falscher Fetisch

Künftige Generationen profitieren nicht vom ausgeglichenen Haushalt. Die schwarze Null schadet ihnen sogar, weil Investitionen aufgeschoben werden

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Wilfried Herz ist ehemaliger Leiter des Wirtschaftsressorts der Wochenzeitung Die Zeit.

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Selbst die Linke zollte im Bundestag dem christdemokratischen Finanzminister Wolfgang Schäuble Respekt. Und die Großkoalitionäre sonnten sich im Eigenlob. „Zeitenwende“ oder gar „Meilenstein“ – kein Wort war den Politikern von Union und SPD zu groß, um die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt 2015 zu feiern, der zum ersten Mal seit 1969 ohne Kredite auskommen soll. Der Verzicht auf neue Schulden, verkündete Kanzlerin Angela Merkel, sei „der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit, den wir für die Jungen, die Kinder und Enkel leisten können“.

Ein zwar weit verbreiteter, aber gefährlicher Irrglaube. Entgegen Merkels Meinung sind schuldenfreie Etats keineswegs eine Voraussetzung dafür, dass die nächsten Generationen vor einem Übermaß an Belastungen bewahrt werden. Gerade Schäubles Haushaltspolitik beweist das Gegenteil: Weil viel zu wenig investiert wird, lebt die Bundesrepublik von ihrer Substanz. Das wird sich mit der schwarz-roten Finanzplanung auch in den nächsten Jahren nicht ändern, auch nicht mit dem Zehn-Milliarden-Investitionspaket, das Schäuble Anfang November überraschend aus dem Hut gezaubert hat. Damit werden Lasten in die Zukunft verschoben, wird der Wohlstand künftiger Generationen gefährdet.

Koste es, was es wolle
 

Und das geschieht alles nur, weil der Finanzminister die schwarze Null zu seinem Markenzeichen erkoren hat, koste es, was es wolle. Von diesem Ziel lässt er sich durch nichts abbringen, nicht durch internationalen Druck der mächtigen Wirtschaftsinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, der OECD, der Europäischen Zentralbank oder wichtiger Partner wie den Vereinigten Staaten. Und auch nicht von Fakten wie den Steuereinnahmen, die schwächer sprudeln, als im Haushaltsplan veranschlagt.

Wie sollte stattdessen ein zukunftsgerechter Staatshaushalt aussehen, der Wohlstand in der Gesellschaft fördert und nicht abwürgt? Es muss deutlich mehr Geld bereitgestellt werden als von Schäuble vorgesehen, für die Infrastruktur – Straßen, Schienen, digitales Netz –, für Erziehung und Bildung vom kleinen Kind bis zum Hochschulstudenten, für Wissenschaft und Forschung. Und dazu gehören nicht nur Investitions-, sondern auch staatliche Konsumausgaben. Bestausgestattete Kitas, Labore und Lehrsäle nützen wenig, wenn das Personal fehlt.

Weil das alles teuer wird, müssen alle Ausgaben einschließlich der Subventionen gründlich durchforstet werden – eine Aufgabe, vor der sich die Finanzminister gern drücken, weil sie viel Ärger bereitet. Es gibt keinen Grund, die sogenannte Hotel-Milliarde beizubehalten, wo selbst der Urheber der Vergünstigung, die FDP, nicht mehr im Parlament sitzt. In allen Ministerien gibt es überbordende Etatposten, weil kein Gesetz und keine Verordnung mehr entworfen werden, bevor nicht ständige Beiräte, Ausschüsse oder externe Sachverständige um kostspieligen Rat gefragt werden. Eine Vielzahl von Bildungseinrichtungen, die eigentlich Arbeitslose fit für den Arbeitsmarkt machen sollen, dienen vor allem dazu, den Betreibern Einkommen zu sichern. Mehr Beispiele liefern die alljährlichen Berichte des Rechnungshofs. Mit Effizienz der Staatsausgaben und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, hat das nichts zu tun.

Wenn dann wegen des aufgestauten riesigen Finanzbedarfs noch eine Lücke bleibt, und das ist sehr wahrscheinlich, sind neue Kredite durchaus vernünftig – nicht als Versuch einer kurzfristigen Konjunktursteuerung, sondern als Einstiegshilfe in eine Langfriststrategie. Mit Schulden ist es wie mit Medikamenten: Das richtige Maß kann helfen, ein Übermaß ist schädlich.

Staat ohne Schulden gefährdet die Gegenwart
 

Wenn Schäuble wollte, könnte er noch für das nächste Jahr per Nachtragshaushalt ein milliardenschweres, kreditfinanziertes Investitionsprogramm auflegen. Da er beim Defizitabbau bislang ein Übersoll erfüllt hat, hätte er den Spielraum, ohne gegen den Maastricht-Vertrag oder die nationale Schuldenbremse zu verstoßen.

Damit würde er auch nicht der Generationengerechtigkeit zuwiderhandeln, deren Grundidee viel älter ist, als die gegenwärtige politische Debatte vermuten lässt. Der Staatsrechtler und Nationalökonom Lorenz von Stein brachte bereits 1871 in seinem „Lehrbuch der Finanzwissenschaft“ dazu kluge Gedanken zu Papier: „Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Und: Wenn der Staat mit Kreditmitteln einen Wert schaffe, der künftigen Generationen nütze und ihnen ein höheres Einkommen ermögliche, sei „es nicht blos unbillig, sondern ist es geradezu ein wirthschaftlicher Widerspruch“, wenn sie „nicht auch zu den Kosten der Herstellung dieses Werths beiträgt“. Damit hat er eine wesentliche Bedingung genannt, die noch heute gelten sollte: Investitionen auf Pump sind dann gerechtfertigt, wenn damit die Produktivität der Volkswirtschaft gesteigert wird.

Zu lange hat Schäuble überhaupt eine Investitionslücke geleugnet. Noch im März veröffentlichte sein Ministerium eine Analyse, dass sich für „Deutschland keine allgemeine Investitionsschwäche nachweisen lässt“. Aber schon 2013 hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung konstatiert, dass fehlende Investitionen die „große Schwäche Deutschlands“ seien. Eine Kommission von Verkehrsexperten hatte einen „Sanierungsnotstand“ bei Straßen und Brücken ermittelt. Schäubles Beamte hätten nur ihre Büros verlassen müssen, um die Realität zu erkennen: Auch im Umkreis des Bundesfinanzministeriums sind Deutschlands neue Lieblingsverkehrsschilder „Fahrbahnschäden“ oder „Gehwegschäden“ montiert.

Als der Mangel nicht mehr abzustreiten war, verlegte er sich aufs Schönreden: Bildung, Wissenschaft und Forschung seien in seinem Budget der „wichtigste Schwerpunkt“ und auch die Bundesmittel für die Infrastruktur würden aufgestockt. Aber mit Schäubles Investitionen ist es wie mit dem Scheinriesen Tur Tur aus Michael Endes Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ – sie schrumpfen, je näher man ihnen kommt: Die Investitionsquote, der Anteil aller Investitionen an den Gesamtausgaben, blieb ohne das neue Zusatzpaket so gut wie unverändert. Und bis das neue Geld ab 2016 – im Durchschnitt sind das bis 2018 auch nur gut drei Milliarden im Jahr – fließt, ist der Rückstand weiter gewachsen. Schäuble läuft dem Notstand weiter hinterher, statt ihn zu beseitigen.

Der Widerstand des Ministers, der seit 1972 für die CDU im Bundestag sitzt und damit der dienstälteste Parlamentarier ist, mag mit seinen Erfahrungen als junger Abgeordneter zu tun haben. Damals versuchte die sozialliberale Koalition bis zu ihrem Ende 1982 mit insgesamt 15 kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen, bei denen auch schon mal der Kauf von Bundeswehrsocken als Konjunkturspritze galt, die Wirtschaft anzukurbeln. Abgesehen von kurzen Strohfeuern blieb das erfolglos: Die Preise stiegen, die Arbeitslosigkeit auch – zum ersten Mal im alten Bundesgebiet über eine Million –, vor allem aber stiegen die Schulden.

Wachstum gegen Verschuldung
 

Paradoxerweise ist ausgerechnet das Jahr 1969, das bisher letzte Jahr ohne Neuverschuldung, das beste Beispiel für ein erfolgreiches, kreditfinanziertes Konjunkturprogramm. Denn die schwarze Null damals war gar nicht geplant. Das legendäre Duo „Plisch und Plum“, der smarte hanseatische Wirtschaftsprofessor Karl Schiller (SPD) und der bullige Bayer Franz Josef Strauß (CSU), lenkte in der ersten Großen Koalition in enger Zusammenarbeit die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Den beiden gelang es, nach der ersten Rezession der Bundesrepublik mit geliehenem Geld einen Boom zu entfachen, wie das Land ihn seither nie wieder registriert hat. Die Arbeitslosenquote sank auf heute unvorstellbare 0,8 Prozent.

In seinem Haushaltsplan 1969 hatte Strauß als Finanzminister Investitionen eingeplant, deren Anteil doppelt so hoch war wie heute, aber auch neue Schulden von mehr als vier Milliarden Mark waren vorgesehen. Obwohl die Steuereinnahmen in die Höhe schossen, verständigten sich Strauß und Schiller noch im Frühjahr auf erste Ausgabensperren, um die heißlaufende Konjunktur abzukühlen. Darüber hinaus deponierten sie mehr als zwei Milliarden bei der Bundesbank als Rücklage für schlechtere Zeiten. Dennoch lag am Ende des Jahres die Nettokreditaufnahme bei null.

Das Beispiel widerlegt Schäubles Mantra, dass man durch eine Erhöhung der Defizite kein Wachstum schaffen kann. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Mit einem kräftigen Wachstum kann Verschuldung abgebaut werden, ohne die Finanzierung wichtiger Zukunftsaufgaben zu gefährden.

Für Strauß, den Urvater der schwarzen Null, war ein Haushalt ohne Schulden kein Fetisch. Das bekam Schäubles Amtsvorgänger Gerhard Stoltenberg zu spüren, der in den achtziger Jahren die Neuverschuldung zu bremsen versuchte. Als er das Mutterschaftsgeld trotz rückläufiger Geburtenzahlen kürzen wollte, polterte der damalige CSU-Chef Strauß: Es sei wenig sinnvoll, „einem sterbenden Volk konsolidierte Haushalte“ zu übergeben.

Schäuble mag zwar mit der ersten schwarzen Null nach viereinhalb Jahrzehnten in die Geschichtsbücher eingehen. Aber seinen Fehler – das Sparen zur falschen Zeit am falschen Platz – werden „die Jungen, die Kinder und Enkel“ ausbaden.

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