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(picture alliance) Julia Schramm wehrt sich gegen die Gleichsetzung von Netz und Piraten

Julia Schramm - „Die Piraten sind nicht das Netz“

Internet gleich Piraten gleich Nerds gleich Facebook? Piratin Julia Schramm plädiert für einen differenzierteren Blick auf das Internet und seine Nutzer. Das Netz als Spiegel der Gesellschaft - ein Kommentar

Die Vorurteile gegenüber dem Internet sind vielfältig und sie folgen in der Regel einem bestimmten Muster: Das Netz ist wild, ungezügelt und unkontrolliert. Und die Piraten, als Prototypen des Netznutzers, werden oft ebenso dargestellt. Naivität ist da häufig noch der geringste Vorwurf.

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Dabei sind weder die Piraten das Netz, noch ist das Netz die Piraten. Die Mitglieder der Piratenpartei erleben das Netz als Lebenswirklichkeit; der Pluralismus an Ideen, Meinungen und Individuen beschränkt sich aber bei weitem nicht nur auf die Partei. Wenn sich die Gesellschaft auf diese Weise ins Netz verlagert, bleibt es nicht aus, dass auch die aktuellen gesellschaftlichen Probleme ein virtuelles Abbild finden. Menschen sind nicht perfekt, sie urteilen vorschnell, reagieren emotional und streiten sich oft um Kleinigkeiten. Das sind aber keine Probleme des Netzes, sondern gesellschaftliche Probleme, die man nun eben auch im Netz findet.

Doch: Hinter jeder noch so rabiaten Äußerung steht ein Mensch, der in diesem Moment genau diesen Gedanken hat. Nicht das Internet hat ein Problem mit Rassismus, Sexismus, Homophobie, Rechtsextremismus – kurz: Menschenverachtung – sondern die Gesellschaft hat es. Das Netz macht es nur sichtbar. Sollten wir nicht fast schon dankbar sein, zu erfahren, welche Haltungen in unserer Gesellschaft noch schlummern, noch Alltag sind?

Der Fall in Emden hat sehr anschaulich gezeigt, dass in uns Menschen immer noch die Lynchmobphantasie des verleumdenden Mittelalters fest verankert ist. Jedoch scheint es fahrlässig, die Verantwortung, wie der Autor in seinem Kommentar der Maiausgabe des Cicero impliziert*, den „Nerds“ zuschreiben zu wollen und somit indirekt der Piratenpartei, die vorher als solche definiert wurde. Gerade die Organisation über Facebook ist ein Zeichen dafür, dass sich der Lynchmob aus der Mitte der Gesellschaft rekrutierte.

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Während Facebook eine Plattform für die durchschnittliche Bevölkerung ist, nutzen Piraten für ihre Organisation eher andere Medien. Viele Piraten, einschließlich mir, sind nicht (mehr) auf Facebook angemeldet. Facebook ist nicht das Internet – Piraten wissen das. Eine Gleichsetzung hat dadurch schon bösartige Tendenzen. Schon einmal mussten sich Piraten in einem offenen Brief gegen die falsche Unterstellung eines Kirchenmannes wehren, der sie bzw. das Netz für die Tat gegen den unschuldigen Jungen verantwortlich machen wollte:

„Es war nicht die Piratenpartei, die zu dem Lynchmob aufgerufen hat. Es ist auch nicht die Schuld der Piratenpartei oder der Netzgemeinde, dass auch Menschen, die die Folgen Ihres Handelns nicht begreifen, Facebook nutzen.“

Es erscheint bizarr, dass die Verfehlungen der Polizei und unserer Gesellschaft auf eine Partei projiziert werden, die sich der Belange der neuen durch die Vernetzung gegebenen Realitäten angenommen hat. Die Gleichsetzung, auch nur implizit, verdeutlicht jedoch, wie abstrakt das Biotop Internet für viele Menschen – auch in den Medien – noch ist.

Dass das Netz keine Verantwortung für die Meinungen der Nutzer zu tragen hat, ist eine Binsenweisheit, jedoch: Macht es das besser?

Immer wieder tummeln sich in Foren und anderen virtuellen Plattformen Menschen, die Meinungen kund tun, die bestenfalls bösartig genannt werden können. Es wird gegen Migranten gehetzt, Homosexuelle und Frauen. Erschreckend sind dabei nicht nur die Kommentare selbst, sondern der Gedanke, dass Menschen an ihren Rechnern da ihre wirklich echte Meinung vertreten. Vielleicht sogar eine, die sie niemandem jemals ins Gesicht sagen würden. Auch die Piraten haben mit solchen Menschen in ihren Reihen zu kämpfen. Die Art, Politik zu machen, dokumentiert jeden dieser Fälle und zeigt der Partei schmerzlich, wo sie klare zwischenmenschliche Defizite hat. Die Forderung, Grenzen zu ziehen gegenüber Menschenverachtung ist eine logische Folgerung der Sichtbarkeit. Und das ist auch gut so.

Doch wie mit diesen widerlichen digitalen Aussagen umgehen? Anonymität verbieten ist keine Option.

Außerhalb des Internets (liebevoll „RealLife“ genannt) existieren mittlerweile viele Systeme, um mit diesen Problemen umzugehen. Und trotzdem kommt es immer wieder zu Streitigkeiten und Ungerechtigkeiten oder grundsätzlichen Protesten, die man unter dem Begriff „politisch inkorrekt“ zusammenfassen kann. Das Recht auf Meinungsfreiheit wird leicht zur Schikane genutzt, um Menschen alles mögliche an den Kopf zu werfen, unabhängig davon, wie sehr es sie verletzt.

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Im Netz kommt hinzu, dass die schnelle Verbreitung und das größere Publikum bestimmte Tendenzen verstärken. Eine unbedachte Äußerung mag im normalen Leben nur einigen wenigen Freunden auffallen; wird sie im Netz getätigt, verteilt sie sich in Sekundenschnelle. Auch neigt der virtuelle Diskurs zu Hysterie und wenig Reflexion. Es braucht daher auch im Netz praktikable Umgangsformen, um solche Entwicklungen steuern zu können. Oft wurde unter dem Namen Netiquette versucht, solche Normen zu etablieren, aber in der Regel scheitern solche Versuche an der mangelnden Akzeptanz.

Der – zudem irreführende – Spruch vom „rechtsfreien Raum“ verortet das Problem zusätzlich falsch. Er suggeriert, dass man neue Gesetze für das Netz braucht. Dabei haben wir Gesetze auch für das Internet. Was fehlt, sind die Normen, die angewandten Kulturtechniken, die nicht in den Gesetzen stehen. „Don‘t feed the trolls“ ist so eine Norm, die langsam anfängt sich zu etablieren. Wer im Internet nur provozieren will, wird mit Nichtbeachtung gestraft. Das ist kein einklagbarer Grundsatz, sondern ein Anspruch, den jeder an sich stellen kann oder auch nicht. Auch scheint es in der physisch entgrenzten Kommunikation sinnvoll, öfter mal einen Schritt zurückzutreten, dem virtuellen Gegenüber nicht die maximal schlechtesten Absichten zu unterstellen und Missverständnisse so zu vermeiden, die meist doch nur in einem hässlichen Konflikt zwischen Avataren enden. Verbale Konventionen, die Gestik und Mimik, Ironie und Sarkasmus ersetzen, fehlen schmerzlich.

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Doch für die Weiterentwicklung dieser Umgangsformen braucht es unter anderem eine offene und reflektierte Öffentlichkeit, die im Netz nicht nur eine Gefahr, sondern eine Chance für die Verbesserung der Gesellschaft sieht. Von oben verordnete Regeln funktionieren im urdemokratischen Netz, das jedem die gleichen Rechte einräumt, nicht. Man kann so etwas nur durch Zusammenarbeit und Akzeptanz lösen.

*In seinem Kommentar „Die Ent-Täuschung“ der Maiausgabe des Cicero schreibt Frank A. Meyer unter anderem über den Zusammenhang von Mobs im Internet, Nerds und der Piratenpartei: „Die Piraten betreiben Populismus, bestens bemäntelt durch den Neusprech von Twitter, Tumblr oder Google+. Aufregend wirkt das. Jugendlich. Auch harmlos irgendwie. Bis es sich entlädt. Wie neulich in Emden, wo ein 17-jähriger Berufsschüler durchs Facebook gehetzt wurde, weil er angeblich ein Kind missbraucht und getötet hatte. Vor dem Untersuchungsgefängnis forderten die Nerds: „Holt ihn raus, er gehört an die Wand und erschossen.“ Der Junge war unschuldig.“
Julia Schramm, die am kommenden Wochenende für den Bundesvorsitz der Piratenpartei kandidiert, hat diesen Artikel über Twitter kritisiert und nimmt nun ihrerseits Stellung:

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