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(picture alliance) Teilen die Parteien den Bundestag unter sich auf?

Wahlrechtsreform - Die machtpolitische Versuchung

Das Wahlrecht ist unzeitgemäß, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Den ersten Reform-Versuch von Schwarz-Gelb haben die Richter abgelehnt. Für die Parteien ist die Versuchung allzu groß: Sie könnten sich mit einer Reform zu ihren Gunsten dauerhaft ihre Macht sichern. Eine Analyse

Die Bundesrepublik hat – abgesehen von ihrer Frühphase und der ersten Großen Koalition – keine grundlegenden Wahlsystemdebatten geführt. Die mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl gilt im Prinzip als recht gelungene Verknüpfung verschiedener Anforderungen an ein demokratisches Wahlverfahren. Trotzdem war und ist das Wahlrecht in steter Veränderung begriffen. Nachdem die jüngste Novelle nun mit einem geradezu vernichtenden Urteilsspruch der obersten deutschen Richter als verfassungswidrig verworfen worden ist, steht in Sichtweite der nächsten Bundestagswahl eine Debatte um einen essentiellen Bestandteil der demokratischen Ordnung ins Haus.

Jeder Eingriff ins Wahlrecht kann dabei große Wirkung entfalten und schlimmstenfalls die Legitimationsgrundlage der Demokratie unterhöhlen. Auf terminologische Feinheiten sei an dieser Stelle hingewiesen: Obgleich Wahlsystem und Wahlrecht oftmals synonym verwendet werden, meint das Wahlsystem einen wesentlich kleineren Ausschnitt als das Wahlrecht. Letzteres umfasst die Gesamtheit aller Angelegenheiten, die zur Organisation der Wahl notwendig sind, während ersteres die Übersetzung von Wählerstimmen in politische Repräsentation bedeutet. Somit kann eine Änderung im Wahlrecht also Folgen für das Wahlsystem haben, sie muss es aber nicht.

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Unabhängig davon führen mitunter auch kleinere Veränderungen am Wahlrecht zu geringfügigen Effekten bei der Mandatszuteilung. Im Kern sind Wahlrechtsdebatten daher immer kontrovers, weil sie latent Einfluss nehmen auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament. In der parlamentarischen Demokratie, in der die Regierung ja aus dem Parlament hervorgeht und mit der dortigen Mehrheit eine »Aktionseinheit« bildet, sind die Mehrheitsverhältnisse im Parlament keine abstrakte Dimension, sondern eine zentrale machtpolitische Angelegenheit. Weil die Regierungskoalitionen im Deutschen  Bundestag oftmals nur wenig mehr Sitze als die Kanzlermehrheit aufbringen, kann sich eine leichte Verschiebung im Wahlrecht also auch auf die Machtkonstellationen im Parlament auswirken.

Letztlich geht es um die Frage, ob eine Stimme für eine Partei auch den beabsichtigten Erfolg bringt oder möglicherweise einen nicht intendierten gegenteiligen Effekt erzielt. Die Geschichte des Wahlrechts ist nun voll von Versuchen, ein gerechtes, einfaches und effektives Wahlrecht zu schaffen. Kompliziert wird das Ganze in parlamentarischen Demokratien, weil vom Wahlrecht erwartet wird, dass es im Zweifelsfalle eben auch mehrheitsbildend wirkt.

Daraus ergibt sich ein Einfallstor für Versuche der Parteien, das Wahlrecht auf die eigenen Bedürfnisse hin zu optimieren – sie handeln nämlich letztlich im eigenen Interesse. Deshalb wirken die Struktur und auch etwaige Veränderungen des Parteiensystems notwendigerweise auf das Wahlrecht ein, wobei auch umgekehrt Anpassungseffekte der politischen Wettbewerber an die Zwänge des Wahlrechts zu beobachten sind. Somit erweist sich die Frage, ob das Parteien- nun zum Wahlsystem oder das Wahl- zum Parteiensystem geführt hat, im Grunde als »Henne-Ei-Debatte «. Daher war es auch keinesfalls verwunderlich, dass die seit 2008 fällige Reform des Wahlrechts weniger auf die Beseitigung des negativen Stimmengewichts als vielmehr auf machtpolitische Interessen der Parteien ausgerichtet worden ist.

Beim negativen Stimmengewicht handelt es sich um eine Anomalie des deutschen Wahlrechts, wonach eine Stimme für eine Partei am Ende zu einem Mandatsverlust der Partei führen kann – der Wähler schadet also letztlich seiner präferierten Partei. Es handelt sich um einen schwer abschätzbaren Effekt, der aus dem Zusammenspiel von verbundenen Landeslisten einer Partei sowie Überhangmandaten resultiert.

In der Regel trat das negative Stimmengewicht nurmehr zufällig und selten auf. Doch seitdem die Zahl der Überhangmandate gestiegen ist, ist es prinzipiell häufiger möglich. So brachte ein Zufall, eine Nachwahl zur Bundestagswahl 2005, diesen Effekt unübersehbar zutage, führte zu einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde und versetzte den Gesetzgeber in einige Betriebsamkeit.6 Machtpolitische Erwägungen der Unionsseite hinderten jedoch zunächst die Große Koalition an einer Lösung des Problems und auch die folgende christliberale Parlamentsmehrheit tat sich schwer, einen Gesetzentwurf zu präsentieren, der sowohl das negative Stimmengewicht beseitigte als auch mit den eigenen machtpolitisch motivierten Anforderungen vereinbar war.

Anfangs ging es der CDU/CSU darum, sich die seit einigen Jahren stets hohe Anzahl an anfallenden Überhangmandaten zu sichern. Diese wirken zwar zumeist mehrheitsverstärkend, doch seitdem 2005 die stimmenschwächere  SPD mehr Überhangmandate als die eigentlich stärkere CDU/CSU erhalten hatte, kann durch die Überhangmandate auch eine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse nicht länger ausgeschlossen werden. Bedingt durch die mittlerweile erhebliche elektorale Schwäche der beiden Volksparteiformationen kann es am Ende also durchaus auf die Überhangmandate ankommen. Weil Parteien dazu neigen, vom Status Quo und damit vom letzten Wahlergebnis auszugehen, ist der Vorteil auf Unionsseite mit bislang 24 Überhangmandaten unverkennbar. Wenn man auf Grundlage der Umfragewerte der letzten Monate ein potentielles Bundestagsergebnis auf die Wahlkreise herunterrechnet, lassen sich ebenfalls Überhangmandate in ähnlicher Größenordnung zugunsten der Union errechnen, was wiederum eine rot-grüne Mehrheit zusätzlich erschwert.

Seite 2: CDU/CSU wollen auf Macht nicht verzichten

Verständlich also, dass CDU/CSU aus machtpolitischen Gründen auf diesen Vorteil nicht verzichten wollten, obschon die Überhangmandate die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das Entstehen von negativen Stimmengewichten darstellen. Weil man somit die Überhangmandate nicht antasten wollte, blieb bei Wahrung des Grundcharakters einer Verhältniswahl am Ende nur eine Lösung der Listenverbindungen oder eine Auftrennung des einheitlichen Wahlgebiets nach der föderalen Gliederung. In beiden Fällen mussten aber die Liberalen Bedenken anmelden.

Weil man eben keinen Drittelabgeordneten aus Bremen oder dem Saarland in den Bundestag entsenden kann, muss das Zuteilungsverfahren auf ganzzahlige Werte auf- oder abrunden. Daher entstehen Rundungsgewinne und -verluste, die sich auf lange Sicht und bei gesamtstaatlicher Betrachtung zwar ausgleichen, aber im Einzelfall ein Problem darstellen können: Vor allem eine kleinere Partei läuft Gefahr, in einem Bundesland plötzlich ohne Abgeordneten vertreten zu sein. Auch hier ist das Eigeninteresse der Partei klar erkennbar. Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktionen ein Konstrukt vorgelegt, das die ohnehin schon schwierige Gemengelage beim negativen Stimmengewicht sogar noch zu verschlimmern drohte. Stimmengewinne der einen Partei hätten nunmehr leicht einen Mandatsgewinn einer anderen Partei nach sich ziehen können.

Der Wähler hätte überhaupt nicht mehr abschätzen können, wem seine Stimme hinterher nutzen würde. Außerdem wären faktisch zwei Grundmandate für alle Fraktionen festgelegt worden. Ein derart groteskes Wahlrecht konnte schwerlich vor dem Verfassungsgericht Bestand haben. Einstimmig sahen die Karlsruher Richter darin einen Verstoß gegen die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl, wie sie Artikel 38 des Grundgesetzes verlangt.“  Nun hätte der Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle die Gelegenheit nutzen und dem Bundestag ein neues Wahlrecht dekretieren können.

Trotzdem hat das Gericht klugerweise darauf verzichtet, sich an die Stelle des Parlaments zu setzen. Es ist ja gerade Kern demokratischer Souveränität, dass die Organisation des Staatswesens eben nicht oktroyiert wird, sondern Teil des demokratischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesses ist, ja sein muss. In der Urteilsbegründung hat das Gericht nun dem Gesetzgeber nochmals erläutert, welche Optionen er grundsätzlich hat. Der Spielraum ist groß. Das Grundgesetz lässt sogar einen einfachgesetzlichen grundlegenden Wechsel des Wahlsystems zu.

Prinzipiell könnte jederzeit ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild, ein Grabenwahlrecht mit getrennter Wahl nach Direktkandidaten und Listen oder ein reines Verhältniswahlrecht etabliert werden, auch Mischformen wären möglich. Weil es aber den engen Nexus zwischen Parteien und Wahlsystem gibt und eben die in der Wissenschaft immer wieder attestierte Zufriedenheit mit dem Wahlsystem trotz mancher Unwägbarkeiten hoch ist, wird es wohl zu keinem grundlegenden Wechsel kommen. Wohl aber können durch die nun erforderlichen Anpassungen zur Beseitigung des negativen Stimmengewichts graduelle Veränderungen eintreten.

Sobald dabei aber Elemente verschiedener Wahlsysteme kombiniert oder zusätzlich in das bisherige integriert würden, sind Verstöße gegen die Erfolgswertgleichheit zu begründen oder auf ein unausweichliches Maß zu begrenzen. Die Erfolgswertgleichheit ist der Schlüssel in den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsentscheidungen der letzten Jahre. Jeder Wähler soll mit genau einer Stimme auf die parteipolitische Zusammensetzung des Deutschen Bundestags Einfluss nehmen. Seine Stimme soll eine positive Wirkung für diejenige Partei entfalten, für die er optiert hat.

Eigentlich verbergen sich hinter diesem Begriff also Selbstverständlichkeiten. Dabei sind im Wahlrecht bereits eine Reihe von Elementen integriert, die den spezifischen Interessenlagen der Parteien entgegenkommen. Durch die Differenzierung in eine Erststimme, welche eigentlich nur die personelle Zusammensetzung des Bundestags beeinflussen soll, und einer Zweitstimme, mittels derer die Kräfteverhältnisse abgebildet werden sollen, können Überhangmandate entstehen. Ein Wähler kann dann letztlich mit beiden Stimmen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse nehmen und etwa einer bevorzugten Koalition zu Bonusmandaten verhelfen.

Seite 3: Wollen sich die Parteien einen Vorteil verschaffen?

Wenn solche oder ähnliche Effekte auftreten, stellt sich stets die Frage, ob es sich dabei lediglich um ein nicht intendiertes Element des Wahlrechts handelt oder ob machtpolitisches Kalkül dahintersteckt. Nun werden die Parteien aus letzterem Beweggrund heraus  natürlich die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen austesten. Doch der jüngste Richterspruch hat ihre Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Zudem schwebt nun das Damoklesschwert über ihnen: Wenn es zu einer vorgezogenen Neuwahl des Bundestags käme, würde das Verfassungsgericht ein Wahlrecht verordnen.

Bis dahin ist aber der Bundestag am Zug, wo sich die Fraktionen nun mit einer Regelung rumschlagen müssen, die ihr die Verfassungsrichter quasi nebenbei aufgetragen haben. Bereits aus dem Urteil zum negativen Stimmengewicht ließ sich freilich abschätzen, dass es zu einer partiellen Revision der bisherigen Rechtsprechung in Bezug auf die Überhangmandate kommen würde.10 Die Richter setzten erstmals eine verbindliche, wenn auch eher willkürliche Obergrenze von 15 Überhangmandaten. Hier wird dem Gesetzgeber der Ermessensspielraum bei der Neufassung des Wahlrechts erkennbar eingeschränkt. Schließlich galt bislang eine Obergrenze in der doppelten Höhe als vertretbar.

Gleichwohl sind auch die 15 Zusatzmandate kein Freibrief. So bleibt es dem Gesetzgeber beispielsweise unbenommen, externe Überhangmandate zu erhalten. Extern sind Überhangmandate dann, wenn eine Partei bundesweit mehr Direktmandate als Listenmandate erringt. Dieser Fall trat bislang nur ein Mal auf, 2009 bei der CSU. Weil aber die CSU nicht bundesweit antritt, existiert keine Möglichkeit der Verrechnung mit anderen Landeslisten, womit nur ein Ausgleich bliebe. Weil die CSU aber eine – bundesweit gesehen – eher kleine Partei ist, zieht jedes Überhangmandat gleich eine beträchtliche Zahl von Ausgleichsmandaten nach sich. Schließlich muss ja ausgehend von der Zahl der durch Überhangmandate vergrößerten Mandatszahl der CSU eine neue Gesamtabgeordnetenzahl ermittelt werden.

Jedes Überhangmandat für die CSU stellt einen Zuschlag von über zwei Prozent dar. Im Endeffekt muss dann auch bei allen anderen Parteien ein solcher Aufschlag zugerechnet werden, um die Proportionalität wiederherzustellen. Um auf eine solche massive Erhöhung der Abgeordnetenzahl zu verzichten, billigt das Gericht hier klugerweise einen großen Spielraum zu. Anders verhält es sich mit den internen Überhangmandaten, die das Gros der Zusatzmandate darstellen. Sie fallen an, weil es im Zusammenspiel von der bundesweiten Oberverteilung zwischen den Parteien und der Aufteilung der so einer Partei zuzuteilenden Mandatszahl nach Landeslisten vorkommen kann, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erlangt, als ihr dort proportional eigentlich zustünden.

Hier wäre Abhilfe bereits durch eine Verrechnung von Überhängen mit Listenmandaten in anderen Ländern möglich. Denkbar bleibt auch die Schaffung von Ausgleichsmandaten in einem umfänglichen oder moderaten Rahmen oder eine feste Zuweisung  von Ländersitzkontingenten. Letzteres würde die internen Überhangmandate dann zu externen umdefinieren. Hier ist allerdings dann die Obergrenze von 15 leicht erreicht beziehungsweise wird rasch überschritten. Folglich müssen sich die Parteien zwangsläufig um eine Kompensation Gedanken machen. Kurz- bis mittelfristig könnte dabei eine Erhöhung der Landeslistenmandate und/oder eine Verringerung der Direktmandate Abhilfe schaffen.

Jedenfalls darf man gespannt sein, ob es einen fraktionsübergreifenden Konsens gibt. Entgegen des Postulats der Opposition, dass das Wahlrecht stets in einem solchen Übereinkommen behandelt worden sei, muss man nämlich konstatieren, dass die machtpolitische Versuchung in Reformdebatten immer wieder aufflackert. Es wäre verwunderlich, wenn das nicht auch dieses Mal so wäre. Damit läuft aber vor allem die Parlamentsmehrheit angesichts ihrer eigenen Interessen massiv Gefahr, erneut in Karlsruhe zu unterliegen. Diese Niederlage und das dann zu erwartende verordnete Recht wären allerdings ein absolutes Armutszeugnis für die Demokratie.

Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von INDES - Zeitschrift für Politik und Gesellschaft erschienen.

 

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