Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Erstmals flackert nun ernsthaft eine Debatte über das reale und das künftige Europa auf.

Demokratiedefizit - Die Europadebatte beginnt jetzt

Während Merkel am Parlament vorbeiregiert und über die tatsächliche Finalität Europas geschwiegen wird, tritt einzig Karlsruhe auf die Bremse. Die Verfassungsrichter machen die Dimension des nächsten Schrittes klar und verlangen demokratische Legitimation. Anders sei „Mehr Europa“ nicht zu haben

Man bedenke: Erstmals überhaupt, seit wir uns auf dem Weg zu einem „geeinten Europa“ befinden, flackert nun ernsthaft eine Debatte über das reale und das künftige Europa auf. Was ist es, was könnte daraus werden, was droht zu scheitern? Mit dieser „demokratischen Frage“, genauer: dem demokratischen Defizit - möchte ich mich hier befassen, und zwangsläufig also auch damit, wie die Regierung damit umgeht.

Als eine Art störenden Randbetrieb haben das Kanzleramt und seine Satrappen, die Fraktionschefs der Koalition, während der Finanzmarkt- und -Euro-Krise das Parlament behandelt. Geradezu symbolkräftig wird das noch einmal vorgeführt am Ende dieser Woche, wenn der Bundestag sich nach der Verabschiedung des europäischen Fiskalpakts mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit in die Sommerpause verabschiedet.

Verzögern wird auch die Opposition die Sache nicht, aus Sorge um ihren europäischen Leumund, aber auch, weil ja objektiv Eile geboten ist. Selbst größte EU-Mitgliedsländer wie Spanien, bald vermutlich auch Italien suchen Zuflucht unter einem Rettungsschirm. Das heißt: Das Parlament sieht sich wohl oder übel zum „Ja“, aber es sieht sich auch zur Eile gezwungen in einer hochkomplizierten Sachfrage, die ohnehin die Sachkompetenz der meisten Abgeordneten übersteigt.

[gallery:Prominenter Protest: Köpfe gegen den ESM]

Allein dem Bundesverfassungsgericht ist augenblicklich zu danken, dass noch Bremsen eingezogen und der Abstimmungsprozess verlangsamt wird. In seinem jüngsten Urteil hatte es die Regierung – man muss schon sagen: erneut – hart gerüffelt, den Bundestag nicht „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ über wichtige Angelegenheiten der Europäischen Union nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu unterrichten, ihn damit also um seine Mitwirkungsrechte zu bringen und vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn der Bundespräsident nach der Entscheidung des Parlaments am Freitag das Gesetz nicht eilends unterschreibt, so hängt auch das mit Karlsruhe zusammen. Denn die Richter haben – absolut ungewöhnlich, aber verständlich, da in Notwehr – halböffentlich ihr „Entsetzen“ durchblicken lassen darüber, dass Joachim Gauck das international verbindliche Gesetz unterschreiben und damit wirksam werden lassen wollte, obwohl beim Gericht noch ein Verfahren gegen das Gesetz selbst geprüft wird.

Zugegeben, es gab Zeiten, in denen auch ich als Journalist mit einigem Bangen nach Karlsruhe geblickt habe. Wo in Nachbarländern wie Frankreich, Dänemark, Irland Referenden dazu dienten, zumal im Konflikt um eine neue Verfassung Ressentiments einzusammeln und Stimmen gegen den Integrationsprozess zu mobilisieren, da konnten sich die deutschen Europa-Skeptiker scheinbar auf das höchste Gericht verlassen: Es legte, zuletzt eben beim sogenannten Lissabon-Urteil, die Hürden so hoch und machte eine parlamentarische Zustimmung derart zwingend, dass man den Verdacht haben konnte, insgeheim werde da an den Bundestag appelliert, nationale Souveränitätsrechte mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, ohne zu sehen, womit sie in Europa kompensiert werden – und weshalb das Projekt sich lohnt.

Mein Eindruck: Karlsruhe verteidigte nicht zuletzt eigene Interessen, da das Gericht eine Erosion seiner Zuständigkeiten fürchtet. Auf sicher sehr intelligente Weise hat Professor Udo di Fabio, bis 2011 einflussreicher Richter in Karlsruhe, in einem Essay in der FAZ (22. Juni 2012) über „Das europäische Schuldendilemma als Mentalitätskrise“ soeben noch einmal den Beleg dafür geliefert, was auch bei den Richtern rumort: Er geht davon aus, einige Staaten hielten sich einfach nicht an die Spielregeln, verbreiteten „moral hazard“ – das moralische Abwälzen der eigenen Verantwortung – als Handlungsmaxime, ließen sich „ermattet“ in das Gemeinschaftsnetz fallen und warteten auf Unterstützung reicher Verwandter. Das könne nicht gut gehen. Di Fabio folgt und unterstützt wortmächtig den Berliner Kurs von Angela Merkel. Motto: Entweder wir bekommen das sparsame, deutsche Europa mit seiner anderen Mentalität, oder wir lassen es.

Dagegen, meine ich, argumentiert das heutige Karlsruher Kollegium ungleich überzeugender. Es stellt nicht inhaltliche Bedingungen, sondern macht die Dimension des nächsten großen Schrittes klar und verlangt dafür nach demokratischer Legitimation – anders sei „mehr Europa“ nicht zu haben. Die Richter erklären nicht die deutsche Krisen-Analyse und den deutschen Ausweg für alleinseligmachend, sie argumentieren strikt auf der demokratischen Ebene. Auf wunderbare Art und Weise hat die FAZ das in ihrem Feuilleton jüngst unter der Überschrift „Anatomie einer Hintergehung“ im Detail nachgezeichnet und dem Gericht honoriert. Das Karlsruher Urteil, so Christian Geyer, beschreibe präzise und dicht den Regierungsstil von Angela Merkel in Zeiten der europäischen Staatsschuldenkrise, es sei eine einzige Warnung vor drohender Entdemokratisierung, der Bundestag werde systematisch umgangen selbst in Fragen, in denen seine eigenen originären Zuständigkeiten berührt sind.

Richtig, der Umgang mit dem Parlament ist nur ein Teil des Problems. Auch Wolfgang Schäuble hat in einem Spiegel-Interview soeben eingeräumt, das Gericht habe Recht, wenn es sage: „Man kann mehr Rechte nach Brüssel übertragen, aber darüber muss das deutsche Volk entscheiden.“ Eine solche Volksabstimmung, fügte er hinzu, könne „schneller kommen, als ich noch vor wenigen Monaten gedacht hätte“.

Als Beleg übrigens führte er an, wie groß selbst noch 1987 die Zweifel waren, die Mauer werde je fallen, 1989 war sie dann bereits weg.

Nur: Der Mauerfall war nicht planbar, ein demokratisches Verfahren, wie man die Vereinigten Staaten von Europa baut, müsste aber systematisch, gründlich, öffentlich organisiert werden. Die Predigt aus Berlin lautete bisher, nur eine „Politik der kleinen Schritte“ sei richtig, und sie sei alternativlos. Plötzlich gilt umgekehrt, man müsse den größten denkbaren Schritt wagen, vielleicht sehr bald, einen so großen Schritt, dass es einer Volksabstimmung bedarf! Dieses neue Ziel wird genauso ohne Vorwarnung und Debatte verkündet wie jeder neue Rettungsschirm für Griechenland, Spanien oder Italien und Zypern.

Das heißt: Die Ignoranz gegenüber dem Bundestag ist nur die Spitze des Eisbergs. Am Beispiel Parlament haben die Richter auf einen viel größeren, weitreichenderen, grundsätzlichen Webfehler in der Regierungspolitik hingewiesen. Nicht nur der Bundestag gilt als störend, sondern die ganze Öffentlichkeit. Der Europa-Kurs insgesamt leidet unter einem demokratischen Defizit, das Gespür fehlt generell, wie ein transparentes Prozedere aussieht. Die Kanzlerin hütet sich seit nunmehr bald drei Jahren, Ziele vorzugeben, für die sie sich stark machen und für die sie um Mehrheiten werben müsste.

Ihr Nebelkerzen-Motto: Kommt Zeit, kommt Rat! Zu hören bekommen wir statt offener Auskünfte, dass die anderen Europäer fast alle Sünder sind, sich heillos verschulden und nur ans deutsche Portemonnaie wollen! Entweder richten sie sich nach unseren Spielregeln, oder wir drehen den Geldhahn zu! Solche Rhetorik bedient nur das heimische Publikum (dem freilich nicht erklärt wird, wie Deutschland profitierte vom Euro, wie verschuldet wir selbst sind, wie die Leistungsbilanzüberschüsse entstanden und wie sie sich auswirkten).

Öffentlich plustert sich die Politik als strenger Lehrmeister auf, heimlich werden die nächsten Konzessionen vorbereitet, beispielsweise für Griechenland, von denen es vorher hieß, auf keinen Fall kämen sie für Berlin in Frage. Kann sein, dass die Regierung mehr Europa will, aber so wird sie es nicht erhalten. Das Projekt ist zu groß für diese Methode, es reicht nicht, als Kanzlerin das „neue“ Europa einfach als Plan B im ARD-Morgenmagazin oder als Finanzminister im Spiegel-Gespräch unter der Tür durchzureichen.

Die Politik taktiert sich zu Tode. Angst dominiert. Motto: Man wird abgestraft, wenn man sich stark macht „für Europa“. Ich fürchte, auch in der letzten Runde zum Ferienbeginn wird daher das Parlament nicht die überfällige, ehrliche Zwischenbilanz vorlegen. Dazu gehörte ja das Bekenntnis, dass die Euro-Operationen leider nicht funktioniert haben, die Kosten der Rettung Europas sind gestiegen, die Verschuldung und die Arbeitslosigkeit in den betroffenen Ländern wachsen weiter, neun Regierungen sind bereits ausgetauscht. Punkt. Der jüngste Spiegel-Titel zum Ende der vielen kleinen Schritte, für die es angeblich keine Alternative gab, lautet daher: „Wenn der Euro zerbricht. Ein Szenario.“

So, wie FAZ eine „Anatomie der Hinhaltung“ nachzeichnete, könnte man leicht also auch eine „Anatomie der Verweigerung“ aufschreiben; eine Verweigerung, Ziele zu benennen, Alternativen aufzuzeigen, zu klären, was wir gewinnen und was wir verlieren mit Europa, wenn es endgültig scheitert, und die eigene Politik beizeiten zur Debatte zu stellen. Das letzte Urteil aus Karlsruhe gegen die „Hintergehung“ des Parlaments, der drängende Richter-Rat, Joachim Gauck solle das neue Gesetz nicht gleich unterzeichnen – das alles sind Interventionen in eine Politik, die ihren demokratischen Legitimationsaufgaben nicht wirklich gerecht wird. Europa ist zu bedeutsam, um es so verläppern zu lassen.

PS. Der Ehrlichkeit halber sei hinzugefügt, dass es auch die Medien sind, die damit schlechte Zensuren erhalten aus Karlsruhe. Denn eigentlich ist es doch Aufgabe von uns Journalisten, die Politik – hart, aber fair, gewiss – mit Maßstäben zu konfrontieren und eine Diskussion mit offenem Visier zu verlangen, wenn wir meinen, das fehlt.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.