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(picture alliance) Der Ausbau der Stromtrassen ist alternativlos, das wissen wir - aber bitte nicht vor der eigenen Haustür

Atomausstieg - Die Energiewende muss 2012 endlich konkret werden

CICERO ONLINE schaut in einer Reihe auf die wichtigsten Themen 2012. Heute: Die Energiewende. Der Zeitplan für die geplante Energiewende ist anspruchsvoll gesteckt. Wenn der Atomausstieg gelingen soll, muss im Jahr 2012 mehr Bewegung in die Sache kommen

Im kommenden Jahr wird die Energiewende konkret. Anders gesagt, sie muss endlich konkret werden. Bislang hat es die Politik versäumt, kraftvoll die notwendigen Schlüsse aus dem geplanten Atomausstieg zu ziehen und zu handeln. Die Bundesrepublik bremste vor einem Jahr auf offener Strecke. Damals hatte der Schock von Fukushima Deutschland gepackt. Und während die Brennstäbe in den japanischen Reaktoren noch vor sich hin schmolzen, zogen die Kanzlerin und ihr schwarz-gelbes Gefolge weitreichende Schlüsse: Mit der Atomkraft soll Schluss sein. Die Überzeugung, die Atomenergie als Pfeiler des Energiemixes der Zukunft zu sehen, wich in Windeseile der schillernden Vorstellung einer Welt ohne AKWs.

Gut drei Monate nach dem Gau von Fukushima prasselte unerbittlich höhnischer Applaus auf den CDU-Umweltminister nieder. Die Sitzung in welcher der Bundestag den Atomausstieg beschloss, geriet für Norbert Röttgen zum unfreiwilligen Gang nach Canossa. Nachdem er von einem „Lernprozess“ gesprochen hatte, bogen sich die Reihen der Grünen vor Lachen, Jürgen Trittin bekam sich kaum noch ein. Es war sicher auch Frust dabei, der sich dort Bahn brach: Was die Grünen in jahrzehntelanger Kleinarbeit nicht geschafft hatten, gelang der CDU mit einem Paukenschlag. Dabei kam es der konservativen Regierung gut zu Pass, dass sie die Sympathien der Wirtschaft, insbesondere die der Energielobby bei dem Beschluss hinter sich versammeln konnte.[gallery:Frau Merkel, bitte wenden!]

Im Jahr 2022 wird kein einziges deutsches Atomkraftwerk mehr Strom erzeugen, das ist das Ziel. Ein hochtrabendes Ziel. Für Planung, Genehmigung und Bau der zukünftig notwendigen Infrastruktur hätte man in der Vergangenheit mehr Zeit gebraucht. „Die Zeit haben wir nicht wirklich, aber wir können die Prozesse auch nicht übers Knie brechen“, konstatiert Martin Cames vom Öko-Institut.

Nun, ein knappes Jahr nach der Vollbremsung zeigt sich, dass die geplante Kehrwende mit starkem Schlingern und Quietschen einhergeht. Lippenbekenntnisse gab es zu Beginn des Umdenkens viele. Denn mit den grausamen Nachrichten aus Fukushima im Rücken trauten sich auch die Lobbyisten kaum aus der Deckung. Selten einmal kam es zu Protestlauten wie denen des RWE-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Großmann, der im Cicero-Interview klagte, die Position seines Unternehmens sei durch die geplante Energiewende im „europäischen Wettbewerb deutlich geschwächt“. Allein das dreimonatige Moratorium habe den Konzern etwas mehr als 150 Millionen Euro gekostet.

Trotzdem erhält die Energiewende in der Bevölkerung noch immer breite Zustimmung, wie Umfragen ergeben. Aber es muss einiges angepackt werden: Der Anteil der erneuerbaren Energien an unserem Stromverbrauch soll in zehn Jahren auf 35 Prozent gesteigert werden – und damit das Doppelte des heutigen Wertes. Bis 2050 sehen die Pläne der Regierung eine Steigerung auf 80 Prozent vor. Gerade der Netzausbau der Stromtrassen aber, der die Energie aus den Windparks in der norddeutschen Flachebene in den industriell hochgerüsteten Süden des Landes verfrachten soll, kommt nur zögerlich voran. 3600 Kilometer Höchstspannungsleitungen sollen bis zum Jahr 2020 gebaut werden, schätzt die Deutsche Energieagentur (dena). In ihrem Monitoringbericht von 2011 warnt die Bundesnetzagentur jedoch, dass sich bei der Hälfte der aktuellen Ausbauprojekte – nämlich 12 von 24 – „erhebliche Verzögerungen“ ergeben haben. Ganz zu Schweigen von den langfristigen Planungen auf diesem Gebiet: Von den insgesamt 149 bis zum Jahr 2014 geplanten Ausbaumaßnahmen „sind 73 von einer Verzögerung beziehungsweise einer Verschiebung des Zeitrahmens betroffen.“

Besonders beim Bau der Trassen sind außerdem die Ängste groß und berechtigt, dass Bürgerbewegungen die ambitionierten Pläne angreifen und aus Angst vor Elektrostrahlung, Lärm, aus ästhetischen oder Naturschutz-Gründen zunichte machen. Cames kritisiert, dass bei diesen Erhebungen zur Netz-Debatte die nötige Transparenz fehle. Beunruhigte Bürger müssten in der Lage sein, die Pläne einzusehen. Bislang aber halten die vier großen Energieversorger Eon, RWE, Vattenfall und EnBW ihre detaillierten Informationen  zum Bedarf an Stromtransporten unter Verschluss. Gerade das aber werde zum Problem, wenn es um die Akzeptanz durch die betroffenen Anwohner geht, so Cames.

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„So einfach, wie viele sich die Energiewende vorstellen, wird es nicht gehen“, prophezeite denn auch Karl-Dieter Grüske, Präsident Friedrich-Alexander-Universität schon im Juli dieses Jahres. Seine Universität soll einen großen Anteil an der wissenschaftlichen Begleitung und Umsetzung der Energiewende haben. Denn es gilt viele Fragen zu klären: Die Forscher arbeiten an neuen, schadstoffarmen und sparsamen Verbrennungstechnologien oder organischen Solarzellen. Herkömmliche Kraftwerke müssen effizienter und umweltfreundlicher werden.[gallery:Von Photovoltaik bis Geothermie – Erneuerbare Energiequellen im Überblick]

Eine der größten Herausforderungen ist die Frage, wie die Schwankungen von Angebot, Menge und Energieverbrauch ausgeglichen werden können. Wie also kann das Horrorszenario eines Blackouts ausgehebelt werden? Während deutsche Unternehmen seit jeher durchschnittlich mit einer Viertelstunde Stromausfall im Jahr rechnen mussten, könnte der Atomausstieg die Unternehmen Millionen kosten, befürchten Konzernchefs wie Großmann. Hinter den Ängsten vor einem Blackout stünde allerdings auch „ein Stück weit Panikmache“, meint Martin Cames, räumt aber ein, dass wir gleichzeitig etwas „mehr an der Kante“ operieren.

Überhaupt die Kosten: EU-Energiekommissar Günther Oettinger warnte vor kurzem in einem Interview mit dem Cicero, dass die Stromkosten schon jetzt auf einem bedenklich hohen Niveau seien – das träfe „gerade ein Industrieland wie Deutschland“ besonders. Konzessionsgebühren auf kommunaler Ebene, Regelungen zur Kraft-Wärme-Kopplung, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, allgemeine Umsatz- und Ertragssteuern, die Ökosteuer und neuerdings auch die Brennstoffsteuer, die im Zusammenhang mit der geplanten Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke eingeführt wurde - all diese Faktoren bestimmen den Strompreis, der für die deutschen Unternehmen zum roten Tuch geworden ist.

Für den geplanten Ausstieg aus der Atomenergie, für die komplette Umstellung auf erneuerbare Energien muss, so heißt es in einem Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen, über die kommenden vier Jahrzehnte verteilt mit Investitionen in Höhe von 1,5 Billionen Euro gerechnet werden.

Die Energielobby hat sich langsam von dem Ausstiegs-Schock erholt, die Politik kommt wieder in festen Tritt. Dazu schaut alle Welt nur auf die Entwicklung des Euro. Da nimmt es nicht Wunder, dass die Vorhaben der Energiewende langsam wieder in den Hintergrund treten. Das Gesetz zur steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung etwa hängt seit Monaten im Vermittlungsausschuss zwischen Bund und Ländern fest. Dabei fällt fast ein Drittel des Endenergiebedarfs für Raumwärme und Warmwasser an. „Gebäudesanierung ist somit ein zentraler Bestandteil des gesamten Energiesparpotentials in Deutschland“, so Cames. Wenn die Energiewende weiterhin so stockend vorangeht, wird es schwer, die geplanten Ziele einzuhalten, vermutet auch er.

Heute könnten die Grünen also wieder frohlocken. Hat die konservative Regierung ihnen vor einem Jahr mit dem ruckartigen Atomausstiegsbeschluss noch den Schneid abgekauft, wittern die einstigen Anti-AKW-Aktivisten Morgenluft. Für die Durchsetzung der Energiewende braucht es Zeit und Überzeugung. Vielleicht gibt es gerade in der zweiten Runde doch noch eine Chance für die Grünen, ihr Leib- und Magenthema wieder zur Profilierung zu nutzen – nachdem sie es schon fast verloren geglaubt hatten. Denn spätestens im anstehenden Bundestagswahlkampf wird die geplante Energiewende auf Herz und Nieren geprüft. Die Politik muss dann mehr vorweisen als hehre Bekenntnisse.

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