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(picture alliance) Bundespräsident Wulff nahm einen 500.000-Euro-Kredit der Frau eines befreundeten Unternehmers an und schwieg darüber

Michael Naumann zur Kreditaffäre - Die Empörung über Wulff ist anmaßend

Die Häme, mit der die Kreditaffäre um Bundespräsident Christian Wulff begleitet wird, ist reiner Populismus. Bei der Bewertung von Politikern haben sich die Maßstäbe drastisch verschoben. Ein Kommentar von CICERO-Chefredakteur Michael Naumann

Da ist sie schon wieder – die kostenlose moralische Rechtschaffenheit, mit der im Namen des politischen Anstands verschärfte Maßstäbe des korrekten Verhaltens in allen Lebenslagen an prominente Zeitgenossen angelegt werden. Nein, hier ist nicht die Rede vom ehemaligen Verteidigungsminister Guttenberg, der plagiiert, das Parlament belogen und seinen Doktorvater betrogen hat. Und trotzdem bei Gott beschwört, sein pseudo-akademisches Machwerk „selbst geschrieben“ zu haben. [gallery:Christian Wulff - Bürgerfreund oder Konzernkumpane?]

Vielmehr richten sich jetzt medial verquälte Aufforderungen an den Bundespräsidenten Christian Wulff, über seinen Rücktritt nachzudenken. Denn er hatte als Ministerpräsident in Hannover einen Privatkredit zum Kauf eines Einfamilienhauses (von erstaunlicher Hässlichkeit) aufgenommen und mit Zinsen zurückgezahlt, ohne den wahren Gläubiger zu benennen. Die Grünen im niedersächsischen Landtag hatten ungesetzliche Vorteilsnahme vermutet, konnten sie aber nicht nachweisen, auch nachdem sich herausstellte, dass er den Namen der Kreditgeberin verschwiegen hatte. Immerhin – ein schwerer Sündenfall, den die katholische Kirche mit einer Novena bestrafen würde. Eine noch härtere Sühne verschreibt ihm Frank Schirrmacher in der FAZ: Er möge in Zukunft über die zweifellos ruchlosere Welt des Finanzmarktes schweigen.

Vorgehalten werden dem Präsidenten zugleich seine Urlaubsaufenthalte in den Wohnungen reicher Freunde, obwohl er – grotesk ist es schon – diese Gastfreundschaft aus seiner Privatschatulle bezahlt hat. 

Wie also stellen wir uns den Idealpolitiker vor? Als bescheidenen Besitzer eines Campingwagens mit Primuskocher? Als Wasser trinkenden Asketen, der noch jedes geschenkte Buch, das mehr als 50 Euro kostet, dem Bundesverwaltungsamt meldet? Als keusche Heilsgestalt, die, einmal im Amt, ihr bisheriges Privatleben den Privilegien der neuen, herausgehobenen Existenz als Staatsrepräsentant opfert und  alle Brücken in die eigene Vergangenheit abbricht? Auf alle Fälle als Zeitgenossen, der jede chauffierte Fahrt mit seinem Dienstwagen aus dem Amtssitz in die eigene Wohnung als geldwerten Vorteil zu versteuern hat? In der Tat – so sieht es das Gesetz vor.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Kritik von Wulff ihre eigenen Maßstäbe überprüfen sollten

Nach dem Tod von Franz-Josef Strauß, Ministerpräsident seligen Angedenkens, sollen seine Erben auf einem Privatkonto in der Schweiz über 20 Millionen Mark vorgefunden haben. Worauf ihm die Bayern einen Flughafen widmeten. Die Maßstäbe haben sich verschoben, und wer will das beklagen? Doch wie kaum anders zu erwarten – ins andere Extrem. Das neidgetriebene Vergnügen, mit dem wir pensionierten Politikern ihre Renten vorhalten, der moralische Eifer, mit dem wir eheliche Verfehlungen von Amtsträgern aufdecken oder ihre Zweitberufe nach dem Amtsausschied anprangern, die Überheblichkeit, mit der Chefredakteure mit absoluten Spitzengehältern auf die Einhaltung repräsentativer Bescheidenheit an höchster Stelle pochen – dies alles addiert sich zu einem Populismus, dessen eigentliche Gratifikation darin besteht, sich moralisch besser zu fühlen als „die da oben.“

Der Korruptionsverdacht, der in der causa Wulff mitschwingt, setzt nun Heerscharen von investigativen Reportern auf die Fährte. So lange sie nicht fündig werden, solange sollten die Flüsterer der politischen und journalistischen Klasse Berlins ihre eigenen Maßstäbe überprüfen und den seelischen Schaden bedenken, den ungerechte Verdächtigungen dem Objekt ihrer Recherchen zufügen.

Sie könnten gleichzeitig darüber nachdenken, wie sie in den letzten Jahren auf die allfälligen Fragen von Handwerkern im eigenen Haus – „mit oder ohne Rechnung?“ – geantwortet haben.  

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