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(picture alliance) Das Netz scheint harmlos - bis es sich entlädt

Stammtisch Internet - Die Analog-Parteien und der Populismus der Piraten

Die Anhänger der Piratenpartei erklären, die neue Truppe aus Enttäuschung über andere Parteien zu wählen. Doch in der Demokratie geht es genau darum: Um die Verhinderung der Selbsttäuschung des Bürgers. Korrupt, faul, abgehoben? Von wegen! Wir sollten den Parteien dankbar sein

Welche Freude, welcher Stolz! Der Bundespräsident ist erkoren. „Überparteilich“. Von den Parteien explizit gelobt dafür, dass er nicht einer der ihren sei, ihnen entrückt vielmehr, deshalb von exquisiter Qualität – einer wie keiner, weil keiner von uns!

Welcher Sieg, welcher Triumph! Die Parteien der ersten funktionierenden deutschen Demokratie verpassen sich einen Vormund.

Ach ja, die deutschen Parteien! Geschmäht seit Jahren, durch Medien und Bürger gleichermaßen: Sie seien sich zu ähnlich, sie könnten sich nicht einigen, sie täten sowieso, was sie wollen, was in den Wählerumfragen Prozente bringt, sie schmissen sich an den Bürger heran, sie seien zu weit vom Bürger entfernt, sie hörten nur auf die Wirtschaft, sie hörten nicht auf die Wirtschaft – was immer sie auch tun, ist falsch, faul und fatal.

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Parteienschelte, Parteienverdrossenheit, Parteiendämmerung.

Mit der Bundespräsidentenwahl erhoben die Parteien ihre Zweifel an der eigenen Rolle zur Staatsräson: durch Distanzierung von sich selbst. Und schufen damit ein gefühltes Machtvakuum – wunderbar verlockend für Machtanmaßung aller Art.

Jens Weidmann, eben noch Zögling und Zudiener der Kanzlerin, jetzt Präsident der Deutschen Bundesbank, ergriff die Gelegenheit beim Schopf und kritisierte sogleich die Haushaltspläne der Bundesregierung: „Hier wurde die Chance verpasst, positive Überraschungen zum zügigeren Defizitabbau zu nutzen.“ So redet ein Schulmeister: „Merkel – mangelhaft, setzen!“

Neben „Demokratielehrer“ Gauck nun auch noch „Haushaltslehrer“ Weidmann.

Die Richter in Karlsruhe komplettieren die Reihe der überparteilichen Aufpasser. Akribisch zerpflücken die Verfassungspauker ein Vorhaben der Regierung nach dem anderen, man möchte meinen: akribischer denn je. Mit dem großartigen Gestus der Unparteiischen verkünden sie ihre Richtersprüche über der Parteien tollpatschiges Tun.

Die Hüter des Grundgesetzes blicken von oben herab auf das geschäftige Gewusel des politischen Alltags. In ihren roten Roben und Baretten bilden sie die letzte Instanz der Republik, ihr Präsident Andreas Voßkuhle wird gegenwärtig gern als „mächtigster Mann im Staat“ apostrophiert.

Was hingegen vermögen da noch die Parteien? Zwar sind sie zuständig für die Kür ihrer Lehrmeister und Kritiker im Olymp von Schloss Bellevue, Bundesbank und Verfassungsgericht. Doch wahrgenommen werden sie als Verwalter der politischen Niederung, pausenlos um Gesetze und Verordnungen bemüht, die den Bürgern das Leben noch mühsamer machen.

Kein gordischer Knoten, der von den Parteien kühn durchschlagen würde. Auch das Aufdröseln gelingt ihnen kaum. Helden haben sie keine vorzuweisen. Jeglicher Glamour fehlt. Nur hartnäckige Handwerker sind da zu besichtigen, die sich beflissen abrackern. Wessen Bürgers Herz mag freudig höher schlagen ob solcher Trübsal?

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Nicht allein mächtige Mentoren mäkeln an den Parteien herum. Auch der Stammtisch fragt immer lauter: Braucht es die überhaupt? Der Stammtisch heißt neuerdings Internet. Eine mächtige Runde, die sich da gerade mit Aplomb konstituiert: als Piratenpartei.

In diesem Fall allerdings lässt sich der Begriff Partei nur als Sarkasmus verstehen: Die Piraten geben die Antiparteien-Partei. 72 Prozent ihrer Anhänger erklären, die neue Truppe aus Enttäuschung über andere Parteien zu wählen.

Sie benennen damit das ewige Problem der Parteiendemokratie: Enttäuschung. Man braucht das Wort Enttäuschung nur ein wenig anders zu schreiben, um die Wurzel des bedrückenden Allgemeingefühls bloßzulegen: Ent-Täuschung.

Denn darum geht es in der parlamentarischen Demokratie: Die Parteien verhindern die Selbsttäuschung des Bürgers!

Sie lassen hochgemute Pläne platzen, sie orientieren sich an der politischen Realität, die wiederum mitbestimmt wird von anderen Parteien, von anderen Interessengruppen, von anderen gesellschaftlichen Kräften, welche ihrerseits die hochgemuten Pläne so mancher Mitglieder und Sympathisanten platzen lassen.

Alles Parteiliche läuft auf diesen ernüchternden Prozess hinaus – auf Ent-Täuschung.

Eine Überschrift im Handelsblatt illustriert den Tatbestand: „Deutsche halten ihre Parteien für zutiefst korrupt.“ Mit korrupt meinen die Befragten keineswegs die Bestechlichkeit der Parteien, sondern deren Orientierung an Gruppeninteressen – statt am Bürger an und für sich, statt am Großen und Ganzen, wie es so schön heißt.

Doch es gibt weder dieses große Ganze, noch gibt es den Bürger an und für sich. Alles Politische ist zergliedert in Gruppen und Grüppchen, die für ihre Sache Druck machen, man könnte auch sagen: eifrig lobbyieren.

Denn so ist sie nun mal, die real existierende Demokratie: ganz schlicht, ganz einfach, ganz unspektakulär. Die Parteien sind ihr Ausdruck. Und ihr Instrument.

Wie wäre es denn ohne Parteien? Wäre das die fröhliche Anarchie, die man der Piraten-Antipartei so gedankenlos attestiert?

Nein, es wäre die pure Macht der Mächtigsten. Was uns die Piraten, wohl noch unbewusst, vorführen: Als Lobby des Netzes sind sie Heloten wirtschaftlicher Supermächte wie Google, Youtube oder Facebook, die sich in ihrer Schönen Neuen Virtuellen Welt gerade anschicken, geltendes Recht außer Kraft zu setzen: Eigentumsrecht, Urheberrecht, Datenrecht, Kartellrecht.

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So überirdisch sich die Datendespoten in Mountain View oder Menlo Park gebärden, so unterirdisch gieren sie nach Geld und Macht – während ihre marketingmanipulierten Piratenschwärme von Freiheit faseln.

Die Piraten betreiben Populismus, bestens bemäntelt durch den Neusprech von Twitter, Tumblr oder Google+. Aufregend wirkt das. Jugendlich. Auch harmlos irgendwie. Bis es sich entlädt. Wie neulich in Emden, wo ein 17-jähriger Berufsschüler durchs Facebook gehetzt wurde, weil er angeblich ein Kind missbraucht und getötet hatte. Vor dem Untersuchungsgefängnis forderten die Nerds: „Holt ihn raus, er gehört an die Wand und erschossen.“ Der Junge war unschuldig.

Das Netz als virtueller Freiraum, frei von Gesetzen, frei von Verantwortung, frei von Moral – und auch von Parteien, die ja gebunden sind ans Praktikable, ans Verpflichtende der Demokratie: Im World Wide Web wuchert die Infantilität der Anspruchsgeneration. „Das steht uns zu“, lautet ihr Mantra.

Was haben die Parteien dagegen aufzubieten? Was haben sie anzubieten? Wieder nichts als Ent-Täuschung – darüber, dass es nicht so kommen wird, wie von den Netzbeseelten ersehnt, weil auch die Unwirklichkeit des Cyberspace letztlich der demokratischen Wirklichkeit unterworfen werden muss. Heute? Morgen? Übermorgen? Schritt für Schritt, zwei vor, einer zurück, wie die Parteien mit ihren unterschiedlichen Programmen nun mal Gesetzgebung praktizieren. Ja, auch das Tempo der Parteiendemokratie ist ent-täuschend.

Derweil mögen sich die aller Parteilichkeit Enthobenen in Berlin, Frankfurt oder Karlsruhe zu mahnender und belehrender und korrigierender Richterei emporschwingen – doch auch sie sind nicht mehr als das Ergebnis parteilicher Erwägungen, parteilicher Kompromisse, parteilichen Feilschens.

Begeisterung für die Parteien? Das wäre zu viel verlangt.

Dankbarkeit würde genügen.  

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