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Illustration für Cicero: Martin Haake

Deutsche Isolation - Warum die Deutschen mit der Vielfalt fremdeln

Die Deutschen entsandten keine Schiffe, um die Welt zu entdecken. Sie erlebten nicht, wie bereichernd Ein­flüsse aus Übersee sind. Kein Wunder, dass ihre Identität starre, ja weltabgewandte Züge hat. Dabei ist die deutsche Seele kosmopolitischer, als viele glauben 

Autoreninfo

Anjana Shrivastava ist eine amerikanische Journalistin. Sie hat an der Harvard University Euro­päische Geschichte und am Institut für Kreatives Schreiben der University of East Anglia studiert. Gerade schreibt sie an ihrem Roman „Luna Park“, der von Franz Kafka und seiner Vermieterin in Berlin-Steglitz zur Zeit der Hyperinflation handelt.

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Zu Beginn der neunziger Jahre, als in Berlin die letzten Reste der Mauer geschliffen und in alle Welt verscherbelt worden waren, als Philosophen über das Ende der Geschichte sinnierten und Politiker eine neue globale Ordnung absteckten, erschien in der Zeitschrift The New Yorker ein erhellender Cartoon. Ein Wanderer stieg einen Berg hinauf, um dort einen weisen Einsiedler über die Zukunft zu befragen. Als er wieder herunterkam, machte er ein frustriertes Gesicht. „What did he say?“, fragten seine Freunde. „Er hat viel erzählt“, antwortete der Wanderer: „But it was all in German“ – es war alles auf Deutsch.

Der Cartoonist ahnte damals zweierlei. Erstens: Die Deutschen werden bald wieder sehr wichtig sein. Und zweitens: Sie haben Probleme, sich anderen mitzuteilen. Wollen sie das überhaupt? „Die deutsche Innerlichkeit will ihren Schlafrock und ihre Ruh“, ätzte der Brandenburger Dichter Gottfried Benn im Jahre 1930 über seine Landsleute. Die Weltabgewandtheit zählt zu den dominierenden nationalen Wesensarten.

Der Wunsch nach dieser Weltabgewandtheit hat sich trotz des Mauerfalls erhalten. Für Auslandseinsätze der Bundeswehr finden sich schwer Mehrheiten in der Bevölkerung. Die Hälfte der Deutschen lehnt die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Krisen- und Kriegsgebieten ab. Und eines der meistverkauften Sachbücher eines deutschen Autors in der Nachkriegszeit trägt den fatalistischen Titel „Deutschland schafft sich ab“.

Deutschland ist keine Insel
 

Die Deutschen, so scheint es zuweilen, würden noch immer gern unter sich bleiben. Sie wähnen sich auf einer Insel der Seligen, aber Deutschland ist keine Insel. Zu einer Insel gehört das Meer. Und obwohl Deutschland mit seinen Küsten immerhin Zugang zu zwei Meeren besitzt, entwickelte sich die deutsche Identität überwiegend auf dem Land und tief im Landesinnern, ohne die Zyklen von Ebbe und Flut.

Diese bodenständige Identität imponiert anderen Nationen. Aber sie besitzt eine Tendenz zur Starre. Wäre die deutsche Identität etwas plastischer, etwas elastischer und global angereichert – dann wäre die deutsche Leitkultur in der Bundesrepublik wohl keine ewig wiederkehrende Kontroverse, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit.

Während andere die Welt eroberten, war hier Krieg
 

Zu Beginn der Globalisierung, bei der Entdeckung und Eroberung der außereuropäischen Welt, war das deutsche Volk noch kein Staatsvolk. Damals waren es die Schiffe der Spanier und Portugiesen, die die Seewege nach Indien und Amerika fanden und die Welt als Erste umrundeten; Deutsche spielten da höchstens als Statisten eine Rolle. An der Eroberung Südamerikas nahm etwa Peter Lißberg aus Worms teil; nachdem seine Heimatstadt im Jahr 1547 in der Schlacht bei Mühlberg unterlag, musste er in spanische Dienste treten. Er kam nach Chile als der Konquistador Pedro Lisperguer, wo er eine Inkaprinzessin heiratete und eine mächtige und reiche Dynastie gründete.

Doch die Aufteilung der Neuen Welt machten Spanier, Franzosen, Niederländer und Briten unter sich aus. Die prägende Geschichte dieses epischen Verteilungskampfs haben die Deutschen verpasst. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die mächtige britische Ostindienkompanie ihren Aufstieg begann, als sich die Franzosen Kanada sicherten, die Niederländer auf den Ost- und Westindischen Inseln Handelskompanien etablierten, als Oliver Cromwell, Kommandeur der New Model Army, Jamaika eroberte, waren die Deutschen im furchtbaren Dreißigjährigen Krieg verstrickt.

Während die wichtigen Nationen des alten Kontinents also um die besten Plätze an der Sonne in Übersee konkurrierten, Dependancen gründeten und sich über den Handel bereicherten, wurden in Deutschland Städte und Dörfer eingeäschert und ganze Länder verheert. „Die Folge war, dass Deutschland zum Schlachtfeld eines ihm innerlich fremden, überseeischen Landnahmekriegs wurde, ohne selbst an der Landnahme beteiligt zu sein“, urteilte der nationalsozialistische Rechtsphilosoph Carl Schmitt in seiner geopolitischen Erzählung „Land und Meer“. Deutschland wurde in dieser Lesart zu einer unglücklichen Puppe von Königshäusern und Regierungen, es wurde zu einer Opfernation stilisiert. Die Folgen spüren wir heute noch – obwohl darüber in der Öffentlichkeit kaum debattiert wird.

Kulturell hat Deutschland in dieser Zeit viel geopfert. Der Dreißigjährige Krieg hat nicht nur die deutschen Städte, die Bauern und das wachsende deutsche Bürgertum geschwächt. Die deutsche Abwesenheit bei der Entwicklung der globalen und kreolischen Identitäten, bei der Mischung von Völkern und Kulturen wirkt bis heute nach. Denn aus den neuen Kolonien bezogen die aufstrebenden Atlantikmächte nicht nur Gold und Silber, nicht nur Kolonialwaren wie Zucker, Kaffee, Gewürze und Tabak. Vielmehr haben die Weltumrundungen den Seemächten völlig neue Identitäten beschert. Ein kreolisches Zeitalter brach an, und es währt noch immer.

Die Entstehung der kreolischen Identität
 

Ein Kreole war ursprünglich ein in der Neuen Welt geborener Mensch, dessen Vorfahren aus der Alten Welt stammten, egal ob aus Europa oder aus Afrika, egal ob seine Hautfarbe weiß oder schwarz war. Das Wort Kreolisierung geht auf das Lateinische „creare“ zurück, „kreieren“ oder „erschaffen“. Im Portugiesischen und Spanischen bedeutet „criar“ „aufziehen“ und „erzeugen“; „cria“ bezeichnet einen Säugling oder ein Kleinkind.

Kreolen waren deshalb zunächst in der Neuen Welt geborene Kinder, die Vokabel schloss mit der Zeit aber auch dort geborene Erwachsene ein. Je länger die Kreolen in den Kolonien lebten, desto stärker bildete sich eine neue Identität, und zwar eine Mischung aus ethnischen und kulturellen Anteilen, die vor allem auf eine gemeinsame, enge Beziehung zur Neuen Welt deutete.

Das literarische Erbe der Kolonialisierung
 

Es ist unmöglich aufzuzählen, wie viel Kultur von Europa in die Kolonien floss und aus den Kolonien wieder zurück nach Europa. Allein ein kurzer Blick auf die Literaturgeschichte zeigt, wie prägend diese Phase war und ist. Die Spanier schickten den Weltdichter Miguel de Cervantes als Soldaten raus aufs Meer, erst nach Osten in die Schlacht von Lepanto gegen die Türken, dann westlich zu den Azoren. Im Lauf der Zeit bekamen Spanien und die spanische Sprache Dichter wie Jorge Luis Borges, Gabriel García Márquez und Roberto Bolaño zurück. Solche Vorgänge des kulturellen Gebens und Nehmens beeinflussten bald das westeuropäische Geistesleben, genauso wie Ebbe, Flut oder Passatwinde die Weltmeere bedingen.

Die Briten schickten Rudyard Kipling und George Orwell nach Indien, Robert Louis Stevenson in den Pazifik. Umgekehrt wirkten der Nobelpreisträger VS Naipaul, Salman Rushdie und Michael Ondaatje und verfestigten den Ruhm der englischen Muttersprache lange nach dem Verfall des britischen Königreichs. Die Franzosen gaben Arthur Rimbaud nach Java ab und Gustave Flaubert nach Nordafrika. Albert Camus schrieb dafür aus Algerien, Nobelpreisträger Saint-John Perse aus Guadeloupe, und der Philosoph Édouard Glissant von Martinique aus.

Die Umrundung der Welt machte die Kultur runder, barocker. Kreolisierung bedeutet, aus mehr als einer Sprache, mehr als einer Ethnie, mehr als einem angestammten Ort eine neue kulturelle Synthese zu generieren. Aus Stammeskulturen werden in alle Welt verbreitete Kulturen, aus Muttersprachen werden Weltsprachen. Jedenfalls bei den Nationen, die die Welt eroberten und deren Nachfahren sich dort niederließen.

Während andere Länder und Nationen mit Integration, Einwanderung und multikulturellem Alltag vertraut sind, fehlt Deutschland in dieser Hinsicht oft das Know-how. Natürlich gab es im 19. Jahrhundert gegen Ende des imperialen Zeitalters einen deutschen Last-minute-Versuch, doch noch zur Kolonialmacht aufzusteigen, in Ost- und Südwestafrika, auf den Pazifischen Inseln oder in chinesischen Pachtgebieten wie Tsingtao. Die Vorbedingung dafür war jedoch eine vorherrschende maritime Macht. Der Griff nach dieser Seemacht erreichte seinen Höhepunkt in der unentschiedenen Seeschlacht von Skagerrak im Jahr 1916.

Deutschland ist kulturell erstaunlich flach
 

Skagerrak wurde jahrzehntelang von deutschen Rechtsradikalen als Sieg über die britische Kriegsmarine gefeiert. Unmittelbar nach dem Krieg, als die entwaffnete kaiserliche Flotte in britischer Gefangenschaft in Scapa Flow darniederlag, verschwor sich die deutsche Admiralität und ordnete die Versenkung der gesamten Hochseeflotte von rund 70 Kriegsschiffen an. Der Schlacht von Skagerrak wird in Deutschland nicht mehr gedacht, nicht mal in Wilhelmshaven. Aber etwas von jener Mentalität, von jenem Hadern mit den Weltmeeren und den westlichen Seemächten scheint noch in der deutschen Kultur zu stecken. Es erscheint als diffuse Bereitschaft, sich selbst zu zerstören, die eigenen Errungenschaften lieber zu versenken, als zuzulassen, dass die deutsche Kultur in fremde Hände gerät.

Die Bundesrepublik fremdelt mit den Aufgaben, die Deutschland von der Welt aufgedrängt werden. Sie fremdelt mit den Menschen, die aus der Ferne in das eng besiedelte Land kommen. Der neuen Weltordnung stehen die Deutschen mitunter ebenso unbeholfen wie ablehnend gegenüber. Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, bleibt kulturell bis heute erstaunlich flach.

Die vergessene Geschichte der Auswanderer
 

Das alte Deutschland interessiert sich kaum für die Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten eingewandert sind. Doch noch weniger Interesse hat Deutschland für jene Deutschen aufgebracht, die ihre Heimat einst verlassen haben. Als ob diejenigen, die sich in den vergangenen Jahrhunderten aus Schwaben, Bayern, Sachsen oder Preußen in neue Welten aufmachten, hinter der Landesgrenze buchstäblich in einen Abgrund gefallen wären. Im kollektiven Gedächtnis blieb dazu nur eine einzige Geschichte haften: die Bremer Stadtmusikanten, jene deutschen Emigranten, die wie alle Auswanderer glaubten, etwas Besseres als der Tod finde sich überall. Doch im Grimm’schen Märchen schaffen es Esel, Hund, Katze und Hahn nicht einmal bis Bremerhaven.

Dabei liegt in der Geschichte der deutschen Auswanderer, die in Brasilien, Argentinien oder Chile, in Texas, Iowa, Kalifornien oder Wisconsin ein besseres Leben suchten, vielleicht genau der Schlüssel, den man braucht, um die komplizierter gewordene deutsche Gegenwart und Zukunft zu erschließen. Denn der Auswanderer war mehr, als die deutsche Volksmeinung ihm zugestehen will; er war mehr als ein Deserteur.

Der in aller Welt gefeierte Regisseur Edgar Reitz drehte zum Abschluss seiner epischen „Heimat“-Saga einen Film über die Auswanderung aus dem Hunsrück im 19. Jahrhundert. Die Idee zu diesem Film bekam er, als ihn eine Krankenschwester aus Rio de Janeiro anrief. Sie berichtete dem Filmemacher, dass ihr Chef, ein Arzt, ebenfalls Reitz heiße und im Übrigen auch noch genau so aussehe wie der Regisseur selbst. So erfuhr der Deutsche von seinem kreolischen Doppelgänger, ein Hunsrücker Nachfahre der Auswanderer des frühen 19. Jahrhunderts.

Deutschland hat nachweislich eine kreolische Geschichte, aber es interessiert sich kaum jemand dafür. Auch Reitz erzählt in seinem jüngsten Film lediglich die Geschichte der gebeutelten Deutschen im Hunsrück. In elegischen schwarz-weißen Bildern zeigt er, wie die tägliche Not, wie Hunger und Rechtlosigkeit Tausende zur Auswanderung zwingen – und die Zurückgebliebenen zum Träumen von fremden Welten verleiten. Die letzte Szene des Filmes zeigt, wie die Aussiedler mit ihren auf Pferdewagen geladenen Habseligkeiten langsam die Leinwand verlassen. Ein tragisches Bild. Die offenbar gar nicht so unglückliche Folgegeschichte dieser Dörfler in Brasilien, die letztlich auch den Doppelgänger Dr. Reitz hervorbrachten, haben leider keinen Eingang in diese wunderbare Saga gefunden. Auch bei Reitz ist Deutschland also flach wie eine Scheibe. Die Siedler samt Pferdewagen – sie verschwinden einfach jenseits der Erdkante.

Den cineastischen Gegenentwurf zu Reitz’ Heimatgeschichte hat denn auch ein türkischstämmiger Hanseat geliefert. Der Filmemacher Fatih Akin hat in den vergangenen Jahren das deutsche Kino geradezu revolutioniert. Seine Filme kennen keine nationalen Grenzen mehr, nur noch die kreolischen Geschichten seiner Helden, die mal zwischen Hamburg und Istanbul hin- und herpendeln oder deren Odyssee sie von Armenien über Kuba bis in die amerikanische Prärie führt.

Die Mutter von Thomas Mann war Kreolin
 

Aber Akin ist bei weitem nicht der erste Kreole in Deutschland. Bei ihm ist die andere, vermeintlich fremde Herkunft nur augenfälliger. Wie bekannt ist zum Beispiel die Tatsache, dass die Mutter von Thomas Mann eine Kreolin war? Sie wuchs als Júlia da Silva-Bruhns in Brasilien auf, war die Tochter der Portugiesin Maria Luísa da Silva und des ausgewanderten Lübecker Kaufmanns Johann Ludwig Hermann Bruhns. „Sie war von einem ausgesprochen romantischen Typus, in ihrer Jugend eine viel bewunderte Schönheit und außerordentlich musikalisch“, schrieb Thomas Mann über seine Mutter. Frage er sich nach der erblichen Herkunft seiner Anlagen, so müsse er feststellen, dass „ich des Lebens ernstes Führen vom Vater, die Frohnatur aber, das ist die künstlerisch sinnliche Richtung und – im weitesten Sinne des Wortes – die Lust zu fabulieren, von der Mutter habe“. Thomas Mann ist eigentlich auch kreolisch – aber kaum ein Deutscher ist sich dessen bewusst.

Öffnet man die Augen für solche Tatsachen, stellt sich die Frage, was es bedeuten kann, deutsch zu sein, noch einmal ganz neu. Plötzlich entfaltet sich eine reichere, barocke Welt. Es gibt zwar keine deutsche Kolonialgeschichte im großen Stil, die heute nachwirken könnte. Aber es gab und gibt eine völlig unterschätzte Auswanderung und Einwanderung des deutschen Geistes – und umgekehrt einen kaum bekannten kulturellen Einfluss aus Übersee auf die deutsche Heimat. So gesehen liegt Deutschland doch am Meer – die Deutschen müssten es bloß merken. Könnte sie diese Sicht mit der Welt versöhnen?

Schon Friedrich Nietzsche hat eine hierzulande verbreitete Ignoranz beklagt und kritisiert, dass die deutsche Identität so wenig elastisch sei. Vor über einem Jahrhundert warnte er vor der deutschen Starre, der deutschen Fixierung auf die Vergangenheit beziehungsweise auf die eigene Vergangenheit. Nietzsche nannte es das „historische Fieber … bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur“.

Und weiter: „Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste man genau wissen, wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist; ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.“ Vielleicht hat Nietzsche seinerzeit auch an die Griechen und ihre Verwandlung im Hellenismus gedacht, aber besser kann man die Hausaufgaben des heutigen Deutschlands kaum beschreiben.

Die deutsche Kreolisierung war eine individuelle
 

Die Deutschen, die vor allem im 19.  Jahrhundert ihre Heimat verließen und sich in der Welt kreolisierten, taten dies nicht als Staatsvolk, sondern als Individuen. Sie waren meist auf sich gestellt, blieben weitgehend ohne den Schutz irgendeines Königs. Folgte die Kreolisierung etwa zwischen Spanien und der Neuen Welt in „geordneten“ kolonialpolitischen Bahnen, war die deutsche Kreolisierung zwangsläufig diffus, individualisiert und auch deswegen stets von Einsamkeit geprägt.

Einer der wichtigsten Einflüsse auf den auch hierzulande sehr geschätzten Gabriel García Márquez war beispielsweise der argentinische Schriftsteller Roberto Arlt. Er gilt als rebellischer, proletarischer Gegenspieler zur aristokratischen Literatur des Jorge Luis Borges.

Arlt schrieb vor 100 Jahren nicht nur in der spanischen Hochsprache, sondern verwendete viel vom Lunfardo, dem Jargon der Kleinbürger und Gauner der Stadt Buenos Aires. Sein Vater war ein preußischer Auswanderer aus Posen, seine Mutter eine italienisch sprechende Österreicherin aus Triest, und sie waren bitterarm. Karl Arlt träumte von der Erlösung aus der Armut mittels einer großen Erfindung, die ihm und seiner Familie Ruhe und Reichtum bescheren sollte. Er scheiterte, doch sein Sohn Roberto erbte die väterlichen Träume. Mit acht Jahren flog er von der Schule, schlug sich als Kleinkrimineller durch, stahl Bücher aus Bibliotheken, bis ihm endlich ein Leben als Journalist gelang.

Täglich erzählte er in seiner gefeierten Zeitungskolumne „Aguafuertes“ Geschichten aus den zwielichtigen Gassen der glänzenden Stadt. Zur selben Zeit beschrieb Alfred Döblin Ähnliches aus den dunklen Ecken Berlins. Arlt schuf eine radikale Literatur aus den Katakomben des kreolischen Argentiniens. Mit Meisterwerken wie „Das böse Spielzeug“ und „Die sieben Irren“ brach er neue, demokratische Bahnen für eine neue Generation Lateinamerikaner, nicht zuletzt für den magischen Realisten Gabriel García Márquez. Beschäftigen sich deutsche Schulen mit Roberto Arlt? Natürlich nicht.

Die Geschichte des August Wilson
 

Oder weiß man hierzulande, dass der wichtigste amerikanische Dramatiker seit Tennessee Williams, der schwarze Dramatiker August Wilson, eigentlich Friedrich August Kittel, Jr. heißt? Sein Vater war ein großer, rothaariger Meisterbäcker aus dem böhmischen Teplitz, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nach Amerika auswanderte. Mit seiner schwarzen Ehefrau, einer Arbeiterin aus Philadelphia, hatte Kittel sechs Kinder. August Wilson war sein erster Sohn. Kittel gab seinen Ehrgeiz und eine fast manische Radikalität an seinen Sohn weiter. Wenn er die Familie nicht verdonnerte, die Zeitung genaustens zu lesen, verschwand er wochenlang nach New York, um aus Geltungsdrang im Waldorf Astoria als Konditor zu arbeiten. Der schwarze, deutsch-amerikanische Sohn August flog mit 14 von der Schule, nachdem er einen großartigen Aufsatz über Napoleon geschrieben hatte. Doch der Lehrer zweifelte an der Autorenschaft des Schülers. Der junge August wurde so wütend, dass er sich schwor, nie wieder zur Schule zu gehen.

Seine Bildung organisierte er selbst in einer öffentlichen Bibliothek und in einem Keller, wohin seine enttäuschte Mutter, eine einfache, aber bildungsbesessene Putzfrau, ihn aus Ärger verbannte. Danach schlug er sich durch die Barbershops und Musikkneipen des schwarzen Arbeiterviertels von Philadelphia. Die Universität seines Lebens setzte sich dort fort. Mit 42 Jahren sah er sein erstes Stück am Broadway aufgeführt. Seine Werke erinnern an Büchner, auch wenn Wilson kein Deutsch sprach und kaum eine Zeile von Büchner gelesen hatte.

Um zu schreiben wie der wichtigste Dichter des Vormärzes, reichte Wilsons Talent, gepaart mit einem, übrigens sehr deutschen, radikaldemokratischen Geist. Denn Wilson wollte in Amerika nicht nur durchkommen. Wie sein Vater, der Einwanderer aus Böhmen, wollte er die Welt für sich neu erschaffen.

Viele Deutsche wollen ihre alte Welt dagegen vor allem behalten. Sie wünschen sich die DDR zurück oder die alte Bundesrepublik. Sie alle leben am liebsten in Krähwinkel, diesem fiktiven Ort einer nabelschauenden Provinzstadt, die der Kosmopolit und Russlandkenner August von Kotzebue in seinem Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“ verewigte, ehe ihn der nationalistische Student Karl Ludwig Sand vor fast 200 Jahren niederstach. Der verklärte Blick zurück, das ist eine bekannte deutsche Pose. Und es gehört vielleicht zum deutschen Drama, dass die Freiheit vieler Deutscher immer wieder vor allem im Ausland gesucht werden musste, weil man sie zu Hause nicht fand oder seiner Heimat nicht mehr zutraute, dass sich die Freiheit dort entfalten könnte.

Es waren Bürger wie der Metzgermeister Ludwig Erdrich, der Deutschland deshalb vor beinahe 100 Jahren verloren ging. Seine Geschichte aber ist heute noch wertvoll. Der zurückgekehrte Soldat Erdrich verließ seine Heimatstadt Pforzheim im Krisenjahr 1922; er trug einen riesigen Koffer mit Messern aus der väterlichen Metzgerei und Wurst aus einem Wildschwein, das er im Schwarzwald erlegt hatte. Die Wurst verkaufte er im New Yorker Bahnhof, aus dem Koffer, den er vor seinem Bauch hielt, bis er so viel Geld zusammenhatte, dass er sich ein Ticket Richtung Westen leisten konnte. Noch im Zug bot er seine Würstchen feil. Als sie alle waren, stieg er aus, mitten im Nirgendwo von North Dakota. Dort eröffnete er einen Metzgerladen, und jedes Jahr zu Halloween spendierte er seinen Enkeln eine Wiener aus dem siedenden Wasser eines großen Kessels.

Das Lied des Großvaters
 

Sein Sohn Ralph heiratete die Tochter eines Chippewa-Häuptlings. Sie gründeten eine Familie. Zusammen sangen sie die alten Lieder aus der Heimat Ludwig Erdrichs. Später wurde die älteste Tochter Louise eine berühmte Schriftstellerin, die einige der wichtigsten Romane der Native American Renaissance schrieb. Auf dem Höhepunkt ihres Schaffens verfasste sie einen Roman für ihren Großvater, diesen deutschen Metzger. Der Titel des Buches: „The Master Butchers Singing Club“.

Am Anfang des Romans steht als Epigramm ein Vers aus einem Lied, das Louise Erdrichs Großvater ihr beigebracht hatte. Es ist ein sehr altes Lied, das allen Deutschen gehört. Denen, die gingen, denen, die blieben, denen, die zukunftsoffen sich vermischt haben, denen, die alte Traditionen weitergeben. Louise Erdrich, das kreolische Kind, soll es oft vor sich hin gesungen haben auf der offenen Prärie, und es geht so:

„Die Gedanken sind frei
Wer kann sie erraten
Sie fliehen vorbei
Wie nächtliche Schatten
Kein Mensch kann sie wissen
Kein Jäger erschießen
Es bleibet dabei
Die Gedanken sind frei.“ 

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Alexander Rostert | Mo., 2. Januar 2017 - 23:22

Neil MacGregor, Direktor des British Museum und Autor des Buches "Germany: Memories of a Nation", hat es seinen Lesern eigentlich ganz gut erklärt: Die deutsche Nation ist, anders als die Kolonialmächte Frankreich oder die Niederlande, vom historisch gewachsenen Selbstverständnis her keine Staatsnation, sondern zuallererst eine Kulturnation, und jeder Mensch auf der Welt, der deutsch spricht und schreibt, wurde und wird darum von dieser Kulturnation problemlos eingebürgert. Wir brauchten nie Kolonien, um eine große Kultur zu schaffen, um der Welt einen Luther, Bach, Kant, Goethe, Marx, Nietzsche, Einstein zu schenken. "Kulturell erstaunlich flach"? Immerhin hat es dazu gereicht, dass sich im 21. Jahrhundert mal eben zehntausend Japaner an einem Ort einfinden, um gemeinsam die "Ode an die Freude" zu singen. Auf deutsch. Die Worte von Schiller, die Musik von Beethoven.