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Deutsche und Antisemiten - Eine peinliche Geschichte

Gibt es wegen des Gazakrieges wieder offenen Antisemitismus in Deutschland? Bei der Beantwortung dieser Frage tun sich einige Peinlichkeitsfallen auf. Und plötzlich sitzt man in einer davon. Ein Kommentar in Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

von Becker, Peter

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Plötzlich fragen mich vor allem amerikanische Freunde in ihren Mails, ob es wegen des Gazakrieges wirklich wieder einen offenen Antisemitismus in Deutschland gebe. Die „New York Times“ hat solche Fragen schon gestellt, nachdem etwa bei einer Berliner Palästinenser-Demonstration judenfeindliche Sprüche laut geworden waren, ohne dass die Polizei sofort eingeschritten wäre.

Die durchaus freundschaftlich gestellten Fragen (und Sorgen) sind peinlich. Eigentlich ist es ja so, dass Antisemitismus (und überhaupt Rassismus) neben der Päderastie die so ziemlich letzten Tabus einer aufgeklärt liberalen und freizügigen Gesellschaft sind. Latente Rassismen oder Stereotypen über andere Völker, Bevölkerungsgruppen, das andere Geschlecht oder den anderen Sportverein sind zwar bei den Deutschen wie bei allen anderen Menschen verbreitet – aber daraus folgen noch nicht ausgelebte Aggressionen oder gar Hass.

Wo aber doch, gelten Strafgesetze.

In der alten Bundesrepublik, die von drei ausländischen Befreiungsmächten demokratisch resozialisiert wurde und deren wachsender Wohlstand die Leute zu notabene immer weltoffeneren Reiseweltmeistern machte, schienen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit spätestens seit der Kanzlerschaft Willy Brandts nur noch eine unappetitliche Sache vom rechten Rand der Gesellschaft zu sein. Im Prinzip gilt das auch heute noch, obwohl die sozialen Verhältnisse und Konflikte im Zuge der Wende und Wiedervereinigung komplizierter wurden. Menschen mit dunklerer Hautfarbe oder einer Kippa auf dem Kopf wissen, warum sie nicht in bestimmten Gegenden von MeckPomm oder Sachsen-Anhalt Ferien machen würden – obwohl sie Ungemach vielleicht auch in einer Berliner, Kölner oder Münchner U-Bahn-Station erfahren könnten.

In der Sarrazin-Falle


Letzteres wissen auch die amerikanischen Freunde. Aber ihre Unruhe reicht weiter. Also erkläre ich, dass die judenfeindlichen Rufe bei der erwähnten Berliner Demo wohl überwiegend von arabischstämmigen Jugendlichen gekommen seien, dass Berliner Polizisten nun auch Arabisch lernten und dass es seit dem Libanonkrieg in den 1970ern hier viele Flüchtlingsfamilien gebe, deren Kinder in nächster Generation in bandenkriminellen Milieus auffällig geworden seien – aber: natürlich nur wenige, nur Ausnahmen! Plötzlich sitzt man so nämlich schon in der nächsten Peinlichkeitsfalle: in der Sarrazin-Falle.

Gerade am vergangenen Wochenende hat mir in Berlin auf einer privaten Einladung ein international renommierter chinesischer Künstler erzählt, dass seine Tochter ab jetzt in Berlin studiere und dass er auf einer ausgedehnten Europareise wieder einmal gemerkt habe: Keine Stadt sei für ihn offener, gastfreundlicher als Berlin: „Here I feel it doesn’t count from where you are, but who you are.“ Damit meinte er nicht Prominenz, sondern zeigte auf sein Herz.

Das freut und beschämt. Und in meiner Antwort an die amerikanischen Freunde ist’s mir schon ein bisschen peinlich, wenn ich erwähnen muss, dass sich auch in Frankreich, in England und anderen europäischen Ländern propalästinensische Gaza-Kriegskritik mit antisemitischen Tönen verbindet, viel heftiger als in Deutschland. Also: Kritik nicht nur an Israels Regierung, sondern Schmähungen von Juden, so, als seien alle Juden auf der Welt Israelis und alle Israelis fundamentalistische Netanjahu-Anhänger (und als gäbe es keine Raketen der Hamas).

Was ich den Freunden in New York auch schreibe: dass die aus Sorge geäußerten Vergleiche mit der NS-Zeit heute völlig überzogen wirken, ob in Deutschland, England, Frankreich oder selbst in Ungarn, wo ein alter neuer Antisemitismus schon seit Jahren seine gruselige Auferstehung bis hinein ins staatliche Fernsehen feiert. Auch suggestive Umfragen, nach denen „der Antisemitismus“ sogar „die bürgerliche Mitte“ in Deutschland wieder erfasst habe, halte ich für so spekulativ wie übertrieben wichtigtuerisch.

Bedenkenswert ist dagegen, was der Soziologe Ulrich Beck gerade in der „Süddeutschen Zeitung“ als „Globalisierung des Antisemitismus“ beschrieben hat. Als Tendenz, Juden in vielen Ländern haftbar zu machen für die zugleich immer stärker polarisierende Politik Israels. Das gilt auch für jene Deutschen, die – aus obsessiver Überidentifikation mit dem Nahostkonflikt – zu Israel in den sozialen Netzwerken schon eine Meinung äußern, bevor sie nachgedacht haben.

Antisemiten sind sie darum noch keine. Aber die Karikatur der Deutschen, von denen es im Witz heißt, sie könnten den Juden Auschwitz nie vergeben.

Eine peinliche Geschichte.

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