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() Zum Weiterlesen: „Parteiendämmerung oder Was kommt nach den Volksparteien“ von Christoph Seils
Der stille Tod der Volksparteien

Fünf Jahrzehnte lang haben CDU und SPD die Bundesrepublik geprägt. Doch ihre Dominanz im Parteiensystem endet. Im Superwahljahr 2011 wird sich die Erosion ihrer Macht vermutlich fortsetzen. Die einstigen Volksparteien werden mehr verlieren als nur Wahlen in einzelnen Ländern.

Stefan Mappus und Klaus Wowereit könnten unterschiedlicher nicht sein. Hier der Newcomer, dort der altgediente Politprofi. Hier der junge Christdemokrat, der sich um ein konservatives Image bemüht, seit er Anfang 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg wurde. Dort der Sozialdemokrat, seit 2001 Regierender Bürgermeister und inzwischen Chef einer rot-roten Landesregierung in Berlin.

Trotzdem eint Mappus und Wowereit im Superwahljahr eine gemeinsame Herausforderung. Beide müssen bei der Landtagswahl im März und der Abgeordnetenhauswahl im September die Attacke der Grünen auf eine schwarze und eine rote Bastion abwehren. Mappus den Angriff von Winfried Kretschmann auf die Staatskanzlei in Stuttgart und Wowereit den Einzug von Renate Künast in das Rote Rathaus in Berlin. Aktuellen Umfragen zufolge stehen die Chancen der Herausforderer nicht schlecht. Für CDU und SPD aber geht es im Jahr 2011 damit zugleich um mehr als nur um die Macht.

Denn erstmals seit 52 Jahren könnten wieder zwei Kandidaten, die nicht den beiden großen Parteien angehören, ein Spitzenamt in einem der 16 Bundesländer übernehmen. CDU und SPD stehen unter Druck. Ihnen droht ein neuer historischer Tiefschlag. Der Mythos Volkspartei, der sie umgibt, könnte sich endgültig verflüchtigen.

Noch klammern sich die CDU, ihre bayerische Schwester CSU und die SPD an das alte Selbstverständnis. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel wird nicht müde, die „große Volkspartei der Mitte“ zu feiern. Mit unerschütterlicher Überzeugung verkündet auch Sigmar Gabriel, die SPD bleibe eine „linke Volkspartei“. Selbst die kleinen Parteien, Grüne, Liberale und Linke, träumen davon, Volkspartei zu werden: so groß, so erfolgreich und so einflussreich. Die kollektive Selbsttäuschung ist allgegenwärtig. Alle Krisensymptome werden konsequent abgestritten und verdrängt.

Dabei sprechen die Fakten für sich. Die Macht in der schwarz-gelben Koalition sicherte sich die Union bei der Bundestagswahl 2009 mit lediglich 33,8 Prozent und dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte. Die SPD stürzte zugleich auf 23 Prozent ab – ein neues bundesdeutsches Tief. Auch die Wahlbeteiligung war so niedrig wie nie zuvor. Tatsächlich wählten nur noch 40,2 Prozent aller Wahlberechtigten entweder Union oder SPD. Die Volksparteien repräsentieren nur noch eine Minderheit. Und es gibt mittlerweile mehr Wähler mit wechselnden Parteienpräferenzen als unerschütterliche Stammanhänger. Zugleich ist die Wählerschaft der beiden großen Parteien überaltert. Sterben die vielen Rentner, die Union und SPD noch die Treue halten, dann wird deren Lage noch wesentlich dramatischer.

Das Parteiensystem steht vor einer Zäsur. Wer hätte vor drei Jahrzehnten gedacht, dass eine ökologische Antipartei einmal zur Projektionsfläche der politischen Hoffnungen des Bürgertums werden würde? Und wer hätte es 1990 für möglich gehalten, dass eine SED-Nachfolgepartei ihren festen Platz im gesamtdeutschen Parteiensystem finden würde?

Mitte der siebziger Jahre steuerte der gesellschaftliche Einfluss von Union und SPD ihrem Höhepunkt zu. Bei der Wahl 1976 machten insgesamt 91,2 Prozent der Wähler und zugleich 83 Prozent aller Wahlberechtigten ihr Kreuz bei einer der großen Parteien, mehr als doppelt so viele wie 2009.

Der Erfolg basierte auf drei Grundlagen: Union und SPD waren fest in den alten bis in das Kaiserreich zurückreichenden Milieus von Sozialdemokraten, Katholiken und Konservativen eingebunden. Großzügig verteilten sie gewaltige Sozialleistungen. Dass sie gleichzeitig einen gigantischen Schuldenberg anhäuften, störte die Politiker damals nicht. Hoch her ging es hingegen in den ideologischen Schlachten mitten im Kalten Krieg.

Nach vorherrschender Meinung agieren Volksparteien schichtenübergreifend und versuchen, mit modernen Kommunikationsmethoden möglichst viele Wähler anzusprechen. Tatsächlich jedoch standen sich in der alten Bundesrepublik zwei unversöhnliche politische Lager gegenüber, die sich gegenseitig stabilisierten. Für Christdemokraten war Willy Brandt als ehemaliger Emigrant und wegen seiner Ostpolitik ein „Vaterlandsverräter“, gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine sozialliberale Koalition wurde die Parole „Freiheit statt Sozialismus“ ausgerufen. Für die politische Linke wiederum waren viele Christdemokraten Revanchisten, der CSU-Politiker Franz Josef Strauß galt gar als Hitlers Wiedergänger. Aber Union und SPD banden fast alle Wähler und integrierten sie nach der Nazidiktatur in die Demokratie.

Lesen Sie im zweiten Teil des Artikels, welche Privilegien und Pfründe die großen Parteien zu verlieren haben und warum nichts dafür spricht, dass die Volksparteien eine Renaissance erleben könnten.

Der Erfolg weckte Begehrlichkeiten, und so waren die beiden Volksparteien in der Gesellschaft allgegenwärtig: im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in den Vorfeldorganisationen der Parteien und in den Universitäten. Systematisch durchdrangen die Parteien die öffentliche Verwaltung. Der Parteienstaat wurde Wirklichkeit, und die feste Verankerung von Union und SPD in der Bevölkerung bildete dafür die Legitimationsgrundlage.

Es gibt viele Gründe für die Erosion der Parteienbindungen: die Auflösung der alten sozialen Milieus, der Bedeutungsverlust von Kirchen, Gewerkschaften oder Vertriebenenverbänden. Vor allem jedoch vermittelt sich Politik in der postmodernen, durchkapitalisierten Gesellschaft nicht mehr über Schichten, Großgruppen und weltanschauliche Gegensätze, sondern über individualisierte Lebenslagen und fragmentierte Klientelinteressen. Dazu gibt es in der globalisierten Welt völlig neue gesellschaftliche Konflikte, die die Parteien mit ihrem aus dem 19.Jahrhundert stammenden politischen Koordinatensystem programmatisch nicht mehr integrieren können.

Ratlos stehen die Politiker häufig der modernen Gesellschaft gegenüber, hilflos erleben sie, wie schwer es ist, Reformen durchzusetzen. Bei allen Debatten um den Umbau des Sozialstaats, um Europa, die Einwanderung und den Islam geht der Riss durch die jeweilige Anhängerschaft. Das Tempo der Veränderungen ist im digitalen Zeitalter gleichzeitig so groß, dass sich die Wähler quer zu den politischen Lagern in allen gesellschaftlichen Konflikten entweder auf die Seite der Bewegung oder der Beharrung schlagen.

Kein Wunder also, dass immer häufiger Wutbürger die politische Agenda bestimmen und so die gewaltige Kluft zwischen den Wählern und der politischen Klasse offenbaren. In Stuttgart bringen sie beinahe eines der größten deutschen Infrastrukturprojekte zu Fall. In Hamburg kippen sie in einem Volksbegehren eine Schulreform, die von allen Parteien unterstützt wurde. Dazu feiern sie den islamkritischen Provokateur Thilo Sarrazin, obwohl der von den politischen Eliten kollektiv geächtet wird. Nicht an den radikalen Rändern der Gesellschaft erhebt sich dieser Protest, sondern in der bürgerlichen Mitte, unter Menschen, die den Parteien bislang loyal gefolgt sind.

Noch besitzen die beiden großen Parteien zumindest einen letzten strukturellen Vorteil. Auch wenn es keine Volksparteien mehr gibt, existiert in der öffentlichen Wahrnehmung ein hierarchisches Parteiensystem. Noch werden Union und SPD als die dominierenden Kräfte wahrgenommen.

Doch je mehr der Vorsprung der großen Parteien schwindet, desto weniger wird sich die hierarchische Unterscheidung aufrechterhalten lassen. Im Osten ist die Linke schon genauso stark wie CDU und SPD und könnte in Sachsen-Anhalt sogar beide überflügeln. Die Grünen könnten in den Stadtstaaten, in Bayern und Baden-Württemberg aufschließen.

Ein grüner oder gar tiefroter Ministerpräsident wäre ein Dammbruch. Plötzlich gäbe es in dem großen Machtspiel mehr als zwei Akteure, und die Wechselwähler würden schnell auf den Geschmack kommen. Wenn der Grünen- oder LinkenHype dann irgendwann vorbei ist, wird der bürgerliche Unmut über die politische Klasse weiterziehen. Dann könnte der Aufstieg des organisierten Rechtspopulismus in Deutschland beginnen.

CDU, CSU und SPD haben also viel zu verlieren. Nicht nur die Regierungsbildung wird schwieriger, wenn es keine klare Unterscheidung zwischen großen und kleinen Parteien mehr gibt. Ihre Privilegien und Pfründe sind in Gefahr.

Vom Bundesverfassungsgericht bis zur Bundeszentrale für politische Bildung, vom Aufsichtsrat der Bahn bis zu den Landesbanken bestimmen sie in der Regel das Spitzen- oder Aufsichtspersonal. Sie nutzen dieses Privileg mit großer Selbstverständlichkeit, obwohl sie nur noch eine Minderheit der Wahlberechtigten repräsentieren. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat die Union die Ablösung des untadeligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender erzwungen. Am 1.Februar 2011 wird der ehemalige Regierungssprecher Ulrich Wilhelm Intendant des Bayerischen Rundfunks. Zudem könnte schon bald der CDU-Ministerpräsident des Saarlands, Peter Müller, zum Bundesverfassungsgericht wechseln und dort auf Peter Huber treffen, den ehemaligen CDU-Innenminister von Thüringen.

Auch so sichern die großen Parteien ihren gesellschaftlichen Einfluss und im Parteienwettbewerb einen strukturellen Vorteil. Doch spätestens wenn andere Parteien in die Staatskanzleien der Länder einziehen, werden Union und SPD dieses Vorrecht mit neuen Mitspielern teilen müssen.

Das ist ein weiterer Grund dafür, warum es für Stefan Mappus und Klaus Wowereit sowie für CDU und SPD im Jahr 2011 um mehr als um den Wahlsieg geht. Doch selbst, wenn sie ihre Ämter noch einmal verteidigen, haben sie damit nur eines gewonnen: Zeit. Die goldene Vergangenheit, die alten Milieus, die großen ideologischen Schlachten und der schuldenfinanzierte Wohlfahrtsstaat kommen nicht zurück. Nichts spricht deshalb dafür, dass die Volksparteien eine Renaissance erleben könnten. Im Gegenteil.

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