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(Peter Knobloch) "MIC CHECK" – Der Protest ist am Fuße des Reichstages angekommen

Occupy Berlin - Der neue Leviathan – zu Besuch bei der Asamblea

Die Welle der Occupy-Bewegung aus den USA hat nicht nur die Frankfurter Börse erreicht. Längst tagt die Asamblea vor dem Reichstag. Eine Reportage zwischen menschlichem Mikrofon und UFO-Verschwörungen

Eine junge Frau erhebt sich. Unter blauem Himmel sitzen zu ihren Füßen etwa 500 Menschen in einem großen Kreis versammelt auf dem Rasen. Sie ist zierlich, schützt sich mit Winterjacke und Schal gegen die Kälte. Zu ihrer Rechten flattert es Schwarz-Rot-Gold, dahinter der berühmte Schriftzug: „Dem Deutschen Volke“. Die junge Frau meldet sich zu Wort, entschlossen ruft sie: „Mic Check!“. Und aus hunderten Mündern schallt es ihr entgegen. „MIC CHECK!“. Wie ein entferntes Echo tönt es ein zweites Mal: „MIC CHECK!“. Mit dem kräftigen Zuruf hat die Asamblea (spanisch: Versammlung) der jungen Frau das Wort erteilt.

Sie ist langsam, erfordert Geduld, baut auf Fragmenten auf: die Kommunikation mit dem menschlichen Mikrofon der weltweiten Occupy-Bewegung. Doch die Satzfetzen füllen ganze Plätze mit der Stimmkraft hunderter Menschen. Auf die Idee kam man in New York, wo Empörte seit dem 17. September 2011 unter dem Slogan „Wir sind die 99 Prozent“  gegen die ungezügelte Macht der Finanzmärkte protestieren und den Zuccotti Park in der nähe der Wallstreet besetzt halten. Die New Yorker Behörden haben den Protestierenden verboten, Megafone zu benutzen. Die Wallstreet-Besetzer behelfen sich daher mit einem Trick. Sie nutzen die Menge als Klangkörper: Jeder spricht das Gehörte nach, sodass sich die Stimmen bündeln und multiplizieren.

Kurz wird es still vor dem Reichstag. Dann schallt erneut die Stimme der jungen Frau mit dem blauen Schal über den Platz. „Ich hätte nie gedacht, …“ Ihr Ruf tritt ihr erneut in zwei Wellen entgegen, „… dass ich mich …“ Sie muss warten, bis ihr Echo aus dem menschlichen Mikrofon abklingt, „ …einmal trauen würde …“, wieder eine Pause, „… hier zu sprechen“. Die letzte Welle aus Stimmen trägt die Worte der zierlichen Person aus der Mitte der Asamblea über eine menschliche Mauer, die ein Kreis aus Stehenden um die Gruppe bildet. Auch wartende Reichstagbesucher können so hören, was die Frau zu sagen hat. Manche schauen verdutzt, andere zeigen Verständnis. „Wir sehen ja, was mit den Griechen passiert“, sagt ein Berlinbesucher älteren Semesters. Er trägt eine Sonnenbrille. „Die da drinnen“, neigt er seinen Kopf kurz in Richtung Reichstag, „müssen endlich wieder das Zepter in die Hand nehmen.“

Sie war schon einmal Teil der Asamblea, erzählt die Frau in die Runde. Als am 15. Oktober in weltweit 951 Städten hunderttausende Menschen gegen die Übermacht der Wirtschaft protestierten, saß sie bereits mit einigen tausend anderen Menschen auf der Wiese vor dem Reichstag. Damals traute sie sich noch nicht, sich zu Wort zu melden. Die Gruppe scheint ihr Mut gegeben zu haben. Sie habe Freunden und Bekannten „hiervon erzählt“. Trotzdem sei sie an diesem Tag mit nur einer weiteren Freundin auf dem Platz. „Deshalb ist es umso wichtiger, …“ ruft sie – und hunderte Mitsprecher folgen ihr, „ …dass wir alle, …“ Pause „… die wir heute hier sind …“ Pause „ … allen Menschen,…“ Pause „… die wir kennen… “ Pause „ … weiter hiervon erzählen.“ Die Menschen auf dem Boden heben die Arme über den Kopf und wedeln mit den Händen als Zeichen ihrer Zustimmung.

[gallery:Occupy Berlin – Asamblea vor dem Bundestag]

Auf den Einfall, Handzeichen zu benutzen, waren bereits die „Indignados“, die Empörten in Spanien gekommen. Zwar wurde es ihnen gestattet, Megafone zu benutzen. Doch auch sie standen vor einem Problem: Die Bewegung ist äußerst vielschichtig. In der Asamblea sprechen Studenten und Rentner, Arbeitslose und Gewerkschafter, Menschen jeden Alters. Man kommt als Einzelperson. Das Grundprinzip der Asamblea widerspricht jeder Form von Autorität. Einen Sprecher, der die Interessen und Ziele der Bewegung im Namen aller vertritt, gibt es nicht. Entscheidungen werden mit der Zustimmung aller getroffen. Dabei setzen die Empörten auch auf Altbewährtes; Verschränkt jemand im Plenum die Arme vor der Brust, heißt das: „Veto“. Da ein Veto – wie in der etablierten Politik – leicht für dicke Luft sorgt, ist Vorsicht geboten. In gewöhnlichen Diskussionen kommen die gekreuzten Arme nicht zum Einsatz. Nötig werden sie nur,  wenn die Versammlung eine Entscheidung treffen muss.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie die Gruppe "Geld und alternative Zahlungsmittel" arbeitet.

Auf der Wiese vor dem Reichstag neigt sich die Sonne gen Horizont und taucht den Sandsteinbau in ein warmes Gelb-Orange. Auch hier fallen erste Entscheidungen, man will Arbeitsgruppen bilden. Sie sollen allmählich Inhalte und Forderungen erarbeiten. Mit einem kräftigen „Mic Check!“ ergreift ein junger Mann das Wort. „Ich heiße Elias“, ruft er in die Menge, und die wiederholt „Ich heiße Elias“. – Lachen. Auf einen Pappkarton hat er mit einem Filzmarker „Geld und alternative Zahlungsmittel“ geschrieben. Elias hat soeben eine Arbeitsgruppe gegründet.

Die Gruppe trifft sich auf der Wiese abseits der Asamblea. Elias trägt eine pinke Pudelmütze, damit man ihn besser erkennt. Zunächst kommen drei Leute zu ihm. Sie stellen sich einander vor, erzählen, warum sie an dem Thema interessiert sind. Allmählich kommen immer mehr dazu. Nun sitzen etwa 30 Leute auf Pappkartons und Isolierschaum im Kreis und diskutieren über Zinsen und Zinseszinsen, regionales Geld mit Verfallsdatum und Tauschwirtschaft. Zettel und Stift gehen herum, alle Interessen sollen ihre Emailadresse in eine Liste tragen. Da die Gruppe klein ist, kommt sie ohne menschliches Mikrofon aus. Eine Tüte mit getrockneten Bananen wird weitergereicht.

Zwei Tage später: „Wer du auch bist, woher du auch kommst und was auch immer dich hier her geführt hat, sei gegrüßt!“. Elias hat eine Email rumgeschickt. Außerdem hat er ein sogenanntes Pad eröffnet, eine im Internet öffentlich zugängliche Textdatei, in die jeder etwas eintippen kann. Jeder Benutzer bekommt eine eigene Farbe. So erkennt man, wer was geschrieben hat. Die Gruppe bespricht, wann und wo sie sich treffen will, was die Themen sein sollen – und ob man Gäste einladen will. Ebenso wird darüber diskutiert, die Plattform zu wechseln – ein heikles Thema. Denn das Pad läuft auf einem Server der Piratenpartei. Und Parteinähe will die Bewegung um jeden Preis verhindern. Das widerspräche dem Prinzip der Asamblea.

Das Dokument wächst mit jedem Tag. Fleißig werden Links und Videos zum Thema geteilt. Zu sehen ist ein 15-minütiges Youtubevideo, in dem Außerirdische einen Planten belagern und einen Schlachtplan zur effektiven Ressourcenausbeutung beschließen: Sie erfinden Geld. So wird – zugegeben wertend – die Entwicklung der Geldwirtschaft bis zum heutigen Tag skizziert. In einem anderen Video hält Professor Bernd Senf einen Vortrag. Darin thematisiert er die gleichzeitig exponentiell ansteigende Menge von Geld und Schulden. Senf war bis 2009 Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Berlin Fachhochschule für Wirtschaft (FHW).

Ein Gruppenteilnehmer kennt den Professor. Er will Senf zu einem kurzen Vortrag einladen. Unter Kollegen ist Bernd Senf nicht unumstritten. In einer seiner Veröffentlichungen analysiert er neben den Theorien von Smith, Marx, Keynes und Friedman sowie Vertretern der Neoklassik und des Neoliberalismus auch Ideen von Silvio Gesell. Der ist Begründer der Freiwirtschaftlehre. Gesells Kritik am Zinssystem wird auch gerne von Verschwörungstheoretikern herangezogen, welche glauben, dass geheime Zirkel planen, eine neue Weltordnung (NWO) zu errichten. Wegen seiner inhaltlichen Nähe zu Gesell wirft Hermann Lührs von der Uni Tübingen Senf strukturellen Antisemitismus vor. Senf wehrt sich, die Vorwürfe wären haltlos. Wer seine Kapitalismuskritik in Zusammenhang mit dem Judentum stelle, sei alleine Lührs. Senf kritisiere lediglich das System, nicht die Akteure. Die Gruppe, die sich inzwischen in „Geld und alternative Wirtschaftssysteme“ umbenannt hat, nimmt es gelassen: Worum es geht, sind die Ideen, nicht die Person. Zu den 99 Prozent gehören viele – auch Paradiesvögel.

Definitiv ist so einer Johannes – auch wenn er auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag. Für ihn läuft so viel falsch, dass er das System als Ganzes in Frage stellt. Die Menschheit brauche schnell einen Wechsel, „sonst zerstören wir den Planten“, sagt er. Grundsätzlich gibt es auf der Erde genug für alle. Man müsse Mangelvorstellungen überwinden und wieder lernen, Mensch zu sein. Einen Tag zuvor hat er zusammen mit zwei Freunden Passanten auf dem Kiesweg zwischen Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor angesprochen. Die drei haben Vorbeigehende gebeten, ihre Meinung mit einem weißen Filzmarker auf violette Pappschilder zu schreiben. Nun liegen die Botschaften vor Johannes auf der Wiese. Dumpfe Elektrobässe wummern über den Platz. Um Johannes herum tanzen Menschen.

Lesen Sie auf der dritten Seite, was Johannes mit UFOs zu tun hat.

Sein Bekannter Sascha will nicht „occupyen, sondern befreien –  und zwar den Geist des Menschen“, sagt er in einem Youtubevideo, zu finden auf dem Kanal „Exopolitik“. Die Plattform bezeichnet sich auf ihrer Internetseite als ein „Netzwerk von Menschen, welche es sich zum Ziel gesetzt haben, die Ver­schleierung der außer­irdischen Präsenz auf der Erde nicht länger hin zu nehmen.“ Klickt man sich durch die Videos auf dem Kanal, finden man – neben einem fast einstündigen Gespräch zwischen dem Expolitik-Deutschland-Gründer Robert Fleischer und Henryk M. Broder sowie Hamed Abdel-Samad – auch Johannes wieder.

[gallery:Occupy Berlin – Asamblea vor dem Bundestag]

Er sitzt an einem Holztisch. Vor ihm brennt eine rote Kerze. Links von seinem Kopf ist ein Videofenster eingeblendet. „Hi Freunde,“ begrüßt er seine Zuschauer, „wir sind wieder zurück mit brandaktuellen Nachrichten über die Besucher von anderen Sternen.“ Das Video zeigt eine Meldung eines amerikanischen Lokalsenders über eine Ufo-Sichtung in den USA. Johannes glaubt, dass Außerirdische mit Raumschiffen die Erde besuchen. In Deutschland werde das Thema von „gleichgeschalteten Schreiberlingen“ verschwiegen. Es müsse aus der Schmuddel-Ecke geholt werden, damit man sich „ganz normal darüber unterhalten“ könne. „Wie erwachsene Menschen“, sagt Johannes. Die Besuche aus dem Weltraum würden von den Regierungen verschleiert. Der Grund: Die Möglichkeit, dass intelligentere Zivilisationen aus dem All neue Formen des Zusammenlebens mitbringen könnten, würde die Legitimität der Herrschenden in Frage stellen.

Die 99 Prozent sind ein bunter Haufen. Unter ihnen sind neben Paradiesvögeln auch Normalos: Rentner, Studenten, Hartz-IV-Empfänger oder Streikende der Charité. Ein Club von Verschwörungstheoretikern  sind sie nicht – auch wenn sich so manche unter die Bewegung mischen. Wer mitmacht und sich in die Asamblea stellt, spricht für sich als Individuum – getragen von der Stimme der Gruppe. Die Worte verbinden den Hörer über die eigene Stimme mit der Gruppe. Dabei kann er oder sie selbst anderer Meinung sein. Das Nachsprechen allein zwingt zu Toleranz und Geduld. Was man zuallererst wahrnimmt, ist – fernab von jeder Botschaft – die Energie. Und die ist magisch, fast außerirdisch. Die Grenzen zwischen Individuum und Gruppe verschwimmen, die Menge wird selbst zum Individuum, zum unteilbaren Leviathan.

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