Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
() 1914: Kriegsfreiwillige in Berlin auf dem Weg zum Bahnhof
Der letzte Soldat des Kaisers

Franz Künstler ist der älteste lebende Deutsche. Geboren im Juli 1900 kämpfte er im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.

Lesen Sie auch: Jürgen Busche: Wann begann Deutschland? Wie nähert man sich einem Mann, der mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hat? Der Monarchie, Kommunismus, Diktatur und die Republik erlebt hat? Der im Ersten Weltkrieg als Soldat für die k.u.k. Monarchie kämpfte? Franz Künstler ist ein Phänomen. Er bekommnt Autogrammpost. Er ist der letzte Soldat des Kaisers – 90 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Franz Künstler ist 107. Die Klingel läutet. Doch niemand öffnet die Tür im ersten Stock. Es dauert eine Weile. Seine Ohren sind nicht mehr die besten. Dann, plötzlich, bittet ein freundlicher alter Herr ins Wohnzimmer. Brille, Hut, weißer Schnauzer, Gehstock, lange weiße Augenbrauen. Er trägt ein blau-weiß kariertes Hemd, einen grünen Pullunder, darüber einen anthrazitfarbenen Anzug. Franz Künstler lebt in Niederstetten in Baden-Württemberg, in einem Haus, das an das Schloss der Familie des Prinzen Johannes zu Hohenlohe-Jagstberg angrenzt. Seine Wohnung muffelt ein wenig. Künstler wohnt allein, lässt sich nicht im Haushalt helfen. Seine Frau Elisabeth, mit der er seit 1921 verheiratet gewesen war, starb 1981. „Von ihr habe ich Putzen, Bügeln, Waschen und Kochen gelernt“, sagt er. Der alte Herr hängt den Stock an eine Stuhllehne, setzt sich an den Esstisch und legt seinen Hut neben sich. Neugierig mustert er seinen Gesprächspartner. „Also, was wollen sie wissen?“ Um es gleich vorwegzusagen: Er hat kein Lebensrezept und kann es sich nicht so genau erkären, wie er so alt werden konnte. „Wahrscheinlich sind’s die Gene“, sagt er und zieht dabei fragend die Schultern hoch. Mit 97 musste er eine Magenspiegelung über sich ergehen lassen, dabei wurde seine Speiseröhre verletzt. Mit 100 war er nach einer Darm-OP der Star im Krankenhaus. Ein Jahr später kam der Pfarrer bereits zur Ölung, als er an einer Grippe litt. Wahrscheinlich hat der Besuch des Pastors bei ihm alle Reserven mobilisiert, sodass er am nächsten Tag wieder aufrecht am Bettrand saß. „Pfarrern und Ärzten glaube ich kein Wort“, sagt er. Dabei haut er mit der Faust auf den Tisch. Man muss sehr lange zurückschauen, um die Ursachen zu finden, warum das so ist. Im März 1918 wird Franz Künstler als Soldat an die Front zum Piave nach Italien geschickt. „Auf einer Feldmesse hat ein katholischer Pfarrer die Waffen gesegnet und uns dabei aufgefordert, den Feind zu vernichten“, sagt Franz Künstler. „Wie kann ein Pfarrer so etwas sagen?“ Seitdem ist er nicht mehr in die Kirche gegangen. Seit 90 Jahren hält er das durch. Geboren wurde Franz Künstler am 24.Juli 1900 in Soost in Südungarn (jetzt Rumänien). Im heutigen Dreiländereck Serbien/Ungarn/Rumänien wuchs er als eines von fünf Geschwistern auf. Seine Familie gehörte zur deutschen Minderheit in der k.u.k. Monarchie, den sogenannten Donauschwaben. Die Jugend hat den katholisch getauften Jungen geprägt. Er wollte Jura studieren, musste aber, als der Krieg 1914 ausbrach und seine älteren Brüder eingezogen wurden, seinem Vater auf dem elterlichen Hof helfen. „Damals hab ich geheult wie ein Schlosshund“, sagt Künstler. „Für mich zählten doch Bücher über alles.“ An den Tag der Ermordung des ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 kann er sich besonders gut erinnern. „Es war der Beginn der Ferien, ich fuhr vom Lenau-Gymnasium in Temeschburg (Timisoara) mit dem Zug nach Hause nach Groß Kikinda. Am Bahnhof holte mich mein Vater ab und sagte: „Ferdi, wir gehen schweren Zeiten entgegen.“ Damals wusste ich aber nicht so genau, was er meinte.“ Vier Wochen später begann der Erste Weltkrieg. Die ersten Kriegsjahre ziehen an ihm vorüber, vormittags absolviert er eine Kaufmannslehre für Eisenwaren, am Abend hilft er in der Landwirtschaft. „Vor allem an die Jahre 1916 und 1917 erinnere ich mich gerne. Da bin ich sonntags immer zum Tanzen gegangen und habe die ersten Mädchen geküsst.“ Aus einer Illustrierten sind ihm noch die Bilder vom Tod des Kaisers Franz Joseph und der Krönung Karl I. in Erinnerung. Den jungen König von Ungarn sollte er später noch leibhaftig sehen – „an der Front in Italien, aus vier Metern Entfernung“. Doch spätestens am 6. Januar 1918 ist für Künstler die unbeschwerte Jugend vorbei – er wird vom Militär gemustert, schließlich vier Wochen später eingezogen. Der Jugendliche ist noch 17, doch als Stichtag gilt der 1. Januar. Während der sechswöchigen Grundausbildung in Szeged (Segedin) wird er an der Kaliber-10-Kanone ausgebildet. „Mir wurden die Teile der Kanone und deren Funktion erklärt“, erinnert er sich, „Tür auf, Geschoss rein, mit Holzkegel reingedrückt.“ Sechs Wochen später kommt der Jugendliche mit dem V. Ungarischen Artillerieregiment an die italienische Front am Piave. Als Kanonier, erzählt er, habe er mit drei Kameraden hinter der Front an der Kanone gestanden. Wenn die Infanterie Feuer verlangt habe, „mussten wir uns immer erst fünf Minuten einschießen. Wir hatten keinen Computer oder so.“ Hinter ihm in einer Mulde hätte der Richtkanonier mit einem Feldtelefon gelegen und Anweisungen von der vordersten Linie bekommen. „Dann rief er herüber: ‚Ein bisschen nach links, ein bisschen mehr nach vorne.‘ Je weiter wir schießen sollten, desto mehr Pulversäcke mussten wir in die Kanone schieben.“ Jeweils vier Mann standen an der Kanone. Künstler zählt auf: „Einer hat das Geschoss geholt, ich als Gefreiter hab es eingestellt, einer hat es in die Kanone geschoben und der Unteroffizier hat die Schnur gezogen. Aber nur auf Kommando des Kommandeurs, der auf Ungarisch ‚Tüz‘ rief. Feuer!“ Franz Künstler und seine Kameraden schlafen in einer Kaserne auf Holzpritschen. Acht Monate liegt er mit seiner Einheit am Piave, im Rücken der Infanterie, die an vorderster Front im Schützengraben liegt, dann führt Anfang November 1918 die Schlacht von Vittorio Venbeto zur Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee im Kampf gegen Italien. Chaos bricht aus. „Wir entsicherten die Kanonen und rollten sie den Berghang hinunter“, erinnert sich Franz Künstler. „Ich bekam noch zwei Brote, ein paar Konserven und 30 Stück Karabiner-Geschoss zugeteilt, dann rannten alle ins Hinterland. Unser Feldwebel Stumpf forderte uns zum geordneten Rückzug auf. Doch alle wollten nur noch heim.“ Väter, Ehemänner. Und Franz Künstler. Er schafft es zu Fuß nach Udine und wartet dort acht Tage auf einen Zug. Nervös ist er, hat Angst vor der Gefangenschaft. Dann steht endlich ein Zug bereit, in einem Viehwaggon über Villach gelangt Künstler nach Wien. „Wir hatten nichts zu essen und zu trinken, konnten uns nicht waschen. Mein Haar war voller Läuse“, sagt er. Seine erste Gulaschsuppe löffelt der Ex-Gefreite aus seiner Mütze – Geschirr gibt es keins. Noch vor Weihnachten ist er wieder zu Hause. Und arbeitslos. Franz Künstler macht eine kleine Pause, mustert seinen Gesprächspartner und schaut durch eines der kleinen Fenster nach draußen. Täglich verlässt er seine kleine Wohnung im ersten Stock, geht zum Friedhof, in den Ort. Als Führer im Jagdmuseum im Schloss Niederstetten war und ist er immer noch ein Unikat und im Dorf grüßt man ihn respektvoll.Viele wundern sich, dass er zu seinen Geburtstagen immer 20 Personen einlädt, jedes Jahr andere. Für seine Verdienste bekam er vor ein paar Jahren die Staufermedaille vom Land Baden-Württemberg verliehen. Die Urkunde, unterschrieben vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel, hängt eingerahmt über der Kommode im Wohnzimmer. Künstler schläft lange, dafür ist er nachts aktiv. Noch früh morgens brennt bei ihm das Licht. Er liest viel, mehrere Ausgaben des Stern liegen auf einem Beistelltisch. Nach fünf Minuten, bemerkt Franz Künstler trocken, fallen ihm immer die Augen zu. Künstler sieht 20 Jahre jünger aus. Mindestens. Doch das Alter macht ihm keine Freude. „Ich sitze hier wie im Gefängnis“, klagt er. „Meine Beine tun weh, ich habe Gleichgewichtsstörungen.“ Bis vor ein paar Wochen hat außerhalb von Niederstetten kaum jemand Notiz von ihm genommen. Anfang Januar war es plötzlich mit der Beschaulichkeit vorbei. Auf einmal bekam Franz Künstler Fanpost aus Deutschland, England und den USA. Reliquienjäger fragten nach Kriegsstücken, Jugendliche nach Autogrammen und Journalisten nach Interviews. „Ich bräuchte eine Sekretärin“, sagt Künstler grinsend und zeigt auf eine Schachtel mit Briefen, die auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers liegt. „Keiner hat Rückporto beigelegt. Da können die lange auf eine Antwort warten.“ Zwar erzähle er gern von seinen Erlebnissen, aber das sei ihm dann doch alles ein bisschen zu viel geworden in letzter Zeit. Weltweit können noch 14 ehemalige Soldaten vom großen Sterben zwischen 1914 und 1918 berichten, von einst 65 Millionen; der 111-jährige Henry Allingham aus England ist der Älteste von ihnen. Für die k.u.k. Monarchie war Franz Künstler einst einer von neun Millionen, die in den Krieg zogen. 1,2 Millionen ließen ihr Leben. Der Starrummel ist ihm suspekt. „Ich bin alles andere als stolz darauf, der letzte Soldat des Kaisers zu sein“, sagt er und liefert die Begründung gleich mit. „Ich war kein Hurra-Soldat und habe nur das getan, was ich tun musste.“ Leise fügt er hinzu: „Die Jugend musste sich gegenseitig umbringen. Ist das etwa gerecht?“ Sein „Nein“ ist kaum zu vernehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg heiratet Künstler seine Freundin Elisabeth, ein Jahr später kommt Sohn Franz zur Welt. Um die Familie zu ernähren, gibt Künstler in Budapest in einer Zeitung eine Annonce auf: „Frontsoldat sucht Anstellung.“ Welche Praxiserfahrung haben Sie?, fragt der Chef der „Heinrich und Co. Eisenstahl- und Haushaltswaren“. Hab an der Front die Kanone bedient, antwortet Künstler. Er bekommt den Job nach acht Tagen Probezeit. 1931 macht er sich selbstständig mit einem eigenen Laden in der Budapester Vorstadt. Doch dann unterbricht wieder ein Krieg seinen Alltag. Im Zweiten Weltkrieg, 1942 in der Ukraine, ist er sechs Monate lang Motorradkurier zwischen Stab und Front. „Das waren immer sehr gefährliche Fahrten, weil Partisanen uns das Leben schwer machten“, sagt Franz Künstler. Als er sich den Pfeilkreuzlern, einer nationalsozialistischen Partei Ungarns, widersetzt, wird er vor ein Standgericht gestellt. Mit Bestechungsgeld sei es ihm gelungen zu entkommen. „Ich hatte reines Glück“, sagt Franz Künstler. „Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.“ Sein Geschäft läuft gut, Künstler handelt viel mit Juden. Auch seine Konkurrenten sind zum Teil jüdischen Glaubens. Dass ein Großteil von ihnen plötzlich verschwindet, berührt Künstler damals nicht. Er erzählt: „Ein anderer Kaufmann sagte zu mir: Jetzt sind die Juden weg, nun haben wir keine Konkurrenz mehr.“ Künstler sucht nach Worten, ist verlegen; man spürt, dass das Thema ihm unangenehm ist. „Mir als Kaufmann ging’s nur um Pinke“, versucht er zu erklären, „ich habe nicht gefragt, wohin die Juden gebracht werden. Auf einmal waren sie weg. Ich war Kaufmann, hatte keine Zeit, darüber groß nachzudenken.“ Erst nach dem Krieg habe er vom Holocaust gehört und zu seiner Frau gesagt, dass die Vernichtung der Juden eine Schande für die Deutschen sei. Künstler macht an seinem Wohnzimmertisch kein Geheimnis daraus, dass er Hitler gemocht habe – „von Anfang an“. Doch spätestens mit Beginn des Russlandfeldzuges „war mir klar, dass der Krieg verloren ist“. Als Angehöriger der deutschen Minderheit muss Franz Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit seiner Frau Ungarn verlassen. Wegen angeblicher Parteischädigung wird er im Oktober 1945 verhaftet und in einer Kaserne interniert. Seine Aufgaben: Karteikarten sortieren, Garagen betonieren, Fässer schleppen, Fäkalien aufwischen. Am 10.Januar 1946 gelingt ihm die Flucht durchs Kasernenfenster. Er rennt nach Hause, duscht sich und flüchtet in die Provinz zu einem seiner Kunden, einem Adligen. Dort hält er sich vier Monate versteckt – bis zum Mai 1946. Plötzlich taucht seine Frau bei ihm auf mit dem Ausweisungsbescheid in der Hand. Schnell packen sie eine Kiste mit Kleidern, Schuhen und einem Perserteppich. Seinen Sohn sieht er erst 1952 wieder. Über Passau und Stuttgart gelangt das Ehepaar nach Niederstetten. Doch als Donauschwaben sind die Künstlers alles andere als willkommen. Das Schloss in Niederstetten ist überfüllt mit adeligen Flüchtlingen aus Ostpreußen. Der Fürst weist dem Ehepaar Künstler ein kleines Zimmer im ersten Stock zu. „Hören sie zu“, sagt Franz Künstler und legt mit Nachdruck seine Hand auf den Arm seines Gesprächspartners. „In Ungarn war ich ein Herr. In Niederstetten dagegen waren wir der letzte Dreck. Sogar der Knecht hat mich behandelt, als ob ich sein Schuhlappen wäre.“ In Ungarn als Deutsche beschimpft, in Deutschland als Zigeuner denunziert – die neue Heimat bleibt ihm auf Jahre fremd. „Kennen Sie das, wenn man gemobbt wird?“, fragt Künstler. „Wir haben die Welt verflucht. Die Deutschen wollten uns nicht, sie haben uns gehasst.“ Auf große Solidarität im Ort hofft das Ehepaar vergebens. Den Perserteppich tauscht er in Blaufelden gegen Lebensmittel ein. Mit Gelegenheitsjobs als Hilfsarbeiter hält er sich zunächst über Wasser, dann findet er Arbeit in einem Versandhaus in Bad Mergentheim. Seit 1956, nach einer schweren Grippe, ist er arbeitsunfähig und in Rente. „Ich bekam 62 Mark im Monat. Das war natürlich viel zu wenig“, sagt er. Künstler kauft bei Bauern alte Möbel auf, restauriert sie und verkauft sie weiter. Ein guter Nebenverdienst. Wenn man wirklich verstehen will, wie alt Franz Künstler ist, muss man auf seinen Sohn zu sprechen kommen. Der ist 86 – und mittlerweile zu alt für einen Besuch in Niederstetten. Vor ein paar Tagen ist Franz Künstler von einem seiner vier Enkel abgeholt worden, um gemeinsam in die alte Heimat zu fahren. Zu seinem Sohn, weiteren Enkeln und Urenkeln. Acht Tage wollte er bleiben. „Wenn’s mir gefällt, auch für immer“, sagt Franz Künstler. „Mal sehen, wie die Lage ist.“ Er kokettiert, weiß er doch ganz genau, dass am 1. April das Jagdmuseum im Schloss wieder öffnet und er als Museumsführer unentbehrlich ist. Abenteuer hätte er genügend erlebt, sagt er zum Abschied, nach über drei Stunden Gespräch. Kriege, Vertreibung, Krankenhausaufenthalte. In dieser Reihenfolge. Weitere Pläne habe er nicht, nur diesen einen: „Wenn ich 110 bin, kann mich der Teufel holen“, sagt er. Und lächelt. André Groenewoud ist fester freier Journalist bei Bunte und schreibt unter anderem für den Stern. Er lebt in München (Foto: Picture Alliance)

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.