Günter Grass - Der gefrorene Zeigefinger

Was konnte Grass wissen, was musste er wissen? Was durfte er erinnern, was verschweigen? Das späte Eingeständnis des Literaturnobelpreisträgers beschäftigt Deutschland. Ganz besonders seinen Geburtsjahrgang 1927. Klaus Harpprecht, Weggefährte und Berater Willy Brandts, erinnert sich

Ein persönliches Wort voraus: Wie Günter Grass kam der Autor dieser Zeilen 1927 zur Welt; so gehören sie beide dem letzten Jahrgang an, der nach Flak und Arbeitsdienst zum regulären Kriegsdienst einberufen wurde. Wie GG erlitt er bei den Rückzugskämpfen eine (nicht allzu schwere) Verwundung, den sogenannten Heimatschuss, für den er nur dankbar war, als er sich im Lazarett wiederfand, zumal er beim chaotischen Rückzug vor den alliierten Panzergeschwadern von einem SS-Kommando mit vorgehaltener Waffe in die sogenannte „Kampfgruppe Dirlewanger“ eingereiht worden war: das allerletzte Aufgebot von Heinrich Himmlers Garde, das in den Zuchthäusern, wohl auch in Konzentrationslagern aus der Elendsarmee der kriminellen und der politischen Häftlinge rekrutiert worden war. Die erzwungene Zuweisung mag in einer Liste registriert worden sein. In den Wehrpass eingetragen wurde sie nicht.
So stolperte dieser Schreiber wie GG, freilich nur für eine knappe Frist, dem Ende des Schreckens in einer Einheit der Waffen-SS entgegen. Anders als GG hat er sehr wohl Schüsse abgegeben, weil man im Gefecht nicht umhinkonnte, von seinem Sturmgewehr Gebrauch zu machen, hernach darauf hoffend, dass man die Ziele verfehlt hatte (was in einem hohen Maße wahrscheinlich war, da die Hände flogen). Wie GG hockte er schließlich als amerikanischer Kriegsgefangener in einem Erdloch, den strahlenden Sommer preisend, der ihm und seinen Kameraden meist den Regen ersparte, gegen den es keinen Schutz gab. Im Unterschied zu dem Dichter fühlte er sich, trotz des barbarischen Hungers, hinter Stacheldraht als Gefangener und Befreiter zugleich. Vor allem: Er war am Leben.
Wie GG hatte er sich als Fünfzehnjähriger freiwillig zum Wehrdienst gemeldet, obwohl der erste seiner Brüder schon im September 1939 gefallen war. Er hatte seine Meldung nicht zur Post gegeben, um der familiären Enge zu entkommen wie der angehende Bildhauer und Poet GG, gewiss auch nicht, um sich für Führer und Vaterland zu opfern, sondern weil man ihm gesagt hatte, dass „Reserveoffiziersbewerber“ des Heeres (vielleicht auch der Luftwaffe und Marine) vor den Werbern der Waffen-SS geschützt waren; sie entgingen in der Regel der zwangsweisen Einberufung zu der schwarz-feldgrauen Garde. Was man in dem Textil-, Zement- und Ackerbürger-Städtchen Nürtingen am Neckar wusste, hatte sich in Danzig nicht herumgesprochen? Oder wollte es Jung-Günter nicht zur Kenntnis nehmen? Hatte ihm niemand erzählt, dass die erste Aufgabe der militarisierten SS die Bewachung und Administration der Konzentrationslager war; erst später erwarb sie sich den (fragwürdigen) Ruhm einer Elite, die überall in die Schlacht geworfen wurde, wo die Armeen der Wehrmacht nicht mehr standhalten konnten oder den Angriff nicht länger wagten? Dass die Aufsicht über die KZs – Vernichtungslager, die man, wenn überhaupt, nur als böse Gerüchte kannte, nicht ausgenommen – eine ihrer zentralen Pflichten blieb? Erwarb sie sich nicht schon als die „Leibstandarte“ des Führers den Ruf, die Garde du Corps des Dritten Reiches zu sein? Waren Hinweise auf die Massenexekutionen in Polen und Russland nur in das schwäbische Nest am Neckar durchgedrungen, aber nicht nach Danzig, das den schrecklichen Ereignissen an die tausend Kilometer näher war? In den Gassen überm Neckar liefen keine Juden mit dem Stern herum, aber in der Landes- und Gauhauptstadt Stuttgart waren die hastenden, vor Angst gekrümmten Geschöpfe nur zu übersehen, wenn man sich blind stellen wollte – und in Danzig? Verschwand jede Ahnung des Unheimlichen und Unheilvollen hinter der Begeisterung des Pimpfen GG über die antibürgerliche Modernität der Jugend, die laut Adolf Hitler auch „von Jugend geführt“ werden musste? War es nur eine Frage des Milieus, in dem einer aufwuchs, ob ihm, ob ihr dieses und jenes Licht aufgesteckt wurde?
In seinem Konfessionsgespräch mit dem FAZ-Hauptherausgeber Frank Schirrmacher erinnerte sich GG, dass er „in der Gefangenschaft zum ersten Mal mit diesen Verbrechen konfrontiert“ worden sei, doch „gleichzeitig“ hätten er und seine Kameraden gesehen, „wie in den amerikanischen Kasernen die Weißen die in getrennten Baracken untergebrachten Schwarzen als ‚Nigger‘ beschimpften“. „Ich will nicht sagen“, fügte er hernach in diesem Zusammenhang hinzu, „dass dies ein Schock war, aber auf einmal war ich mit direktem Rassismus konfrontiert.“ Ohne es recht zu wissen, rückte er damit die Diskriminierung der schwarzen GIs auf die Ebene des nazistischen Rassenwahns, dem er niemals in krasser Unmittelbarkeit begegnet zu sein schien. Wenn schon nicht dem gelben Stern (woran man zweifeln darf): auch nicht den „Stürmer“-Parolen? Nicht den mörderischen Phrasen vom polnischen, vom russischen, vom slavischen „Untermenschentum“? Der Rechtfertigungsmechanismus funktionierte. Darin unterschied sich GG durchaus nicht von der Mehrheit seiner Landsleute.
GG gab zu bedenken, er habe seine Freiwilligenmeldung (ursprünglich zur U-Boot-Waffe) womöglich „vergessen“, und „vielleicht“ habe er „erst in Dresden“, dem Gestellungsort, wahrgenommen, dass er bei der Waffen-SS gelandet sei. Indes, auf den Einberufungsbefehlen stand nicht nur die Kaserne, sondern auch die Einheit vermerkt.
Wer sich (wie der Verfasser dieser Notiz) in der deutschen Realität jener Tage halbwegs auskennt, darf freilich auch mit der gebotenen Klarheit sagen, dass zwar die Waffen-SS in Nürnberg als eine „kriminelle Organisation“ verurteilt worden ist (und das aus guten Gründen) – dass sich die Mehrheit ihrer Soldaten (zuletzt mehr als achthunderttausend) dennoch keines Verbrechens schuldig gemacht hat. Zum andern war der Ehrenschild der Wehrmacht keineswegs blank: Soldaten und Offiziere des Heeres, vielleicht auch der Luftwaffe, waren zu Tausenden an barbarischen Kriegsverbrechen, auch an den Massenexekutionen von Juden und sogenannten Partisanen in Polen und Russland beteiligt.
Jung-GG freilich scheint geradezu ein Genie der Kunst gewesen zu sein, sich blind und taub zu stellen. Wie anders hätte er „bis zum Schluss noch an Endsieg und Wunderwaffen“ glauben können? Der Jahrgangs- und Zeitgenosse, der dies las, sich die Augen reibend, kann sich nicht erinnern, dass er nach dem Scheitern der hirnverbrannten Ardennen-Offensive an der Jahreswende 1944-45 auch nur einem zurechnungsfähigen Menschen über den Weg gelaufen war, der auf das Führer-Mirakel zu hoffen vorgab. Er kennt nur ein anderes literarisches Zeugnis solcher Verbohrtheit: die Erinnerungen der flammenden BDM-Maid, die sich hernach als Carola Stern einen Namen machte und als hochmoralische Instanz so etwas wie die feminine Entsprechung GGs war.
Dennoch denkt der Autor dieser Betrachtung nicht daran, über GG nach seinem Geständnis den Stab zu brechen. Er enthält sich des obligaten Bibel-Zitates, das Walter Kempowski erwartungsgemäß von der Zunge schnellte. Aber das harsche Urteil, das Joachim Fest gleichzeitig via Bild-Zeitung dem Bekenner ins Gesicht schmetterte – diese populistisch formulierte Verdammung – er würde „von diesem Mann nicht mal mehr einen Gebrauchtwagen kaufen“, nimmt sich eher seltsam aus, zumal sich der große Essayist einer etwas abgegriffenen Redensart aus dem amerikanischen Alltag bediente, die sich auf den masurisch-altdeutschen Schnauzbart GGs nicht so recht reimen will. Hingegen versteht er die schnaubende Wut des Biografen Michael Jürgs, der sich hintergangen fühlt, und das zu Recht, da er sich mit seinem Ex-Helden so oft und intensiv über die Probleme der deutschen Vergangenheit unterhalten hatte. Doch zugleich bestätigt sich seine hartnäckige Vermutung, dass es niemals ratsam ist, die Lebensbeschreibung einer Person zu versuchen, die noch unter uns weilt: Denn wer auf Erden wandelt, lügt – in der Regel durch Verschweigen, das einer allerdings kaum je so beharrlich und ausdauernd durchhält, wie es GG mit rekordverdächtiger Zähigkeit schaffte: Sechs Jahrzehnte sind lang.
Dass er sich dem Eingeständnis der Wahrheit mit solch eisernem Willen zu verweigern vermochte, gibt Rätsel auf. Seine Erklärungen, die er in seinem ausführlichen Interview mit dem teilnahmsvollen Frager Frank Schirrmacher anbot, fielen dürftig und eher konfus aus. Der Schreiber dieser Zeilen wirft ihm das nicht vor, schon gar nicht zitternd vor Empörung. Er kann begreifen, dass sich GG in den ersten Jahren des Nachkriegs vor der Wahrheit fortgeduckt hat, als die SS, und mit ihr die Waffen-SS, zum Generalsündenbock für die gesamten Gräuel des Dritten Reiches ernannt wurde, auf den sich alle anderen Nazis, ob Mitläufer oder Fahnenschwinger und Goldfasanen, aber auch die belasteten Militärs herausreden konnten. Es darf zudem erwogen werden, ob GG sich nicht aus guten Gründen gescheut hat, die unangenehme Wahrheit zu offenbaren, als er Anfang der fünfziger Jahre mit seiner ersten Frau, einer Schweizer Tänzerin, nach Paris zog: Die Franzosen hätten damals, sich an Oradour erinnernd, ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS kaum mit überschäumender Herzlichkeit aufgenommen. Und wie hätte der übersensible Paul Celan reagiert, der Dichter der „Todesfuge“, mit dem GG „Bauerncalvados“ zu trinken pflegte? Nicht auszudenken.
In Frankreich hat Grass die „Blechtrommel“ geschrieben. Wären die goldenen Tage, als der Triumph des genialen Romans so hell und so leuchtend sichtbar wurde, nicht der rechte Zeitpunkt gewesen, mit der Wahrheit an die Rampe zu treten? Warum biss er sich auf die Zunge? Kollege Walser, auch er Jahrgang 1927, schmetterte nach der Selbstenthüllung in der FAZ ein Argument auf den Tisch, das GG nicht allzu angenehm berühren kann: der berüchtigte Applaus aus der falschen Ecke. Das sechzigjährige Schweigen des „mündigsten aller Zeitgenossen“, der ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten sei (aber war er das wirklich?), werfe „ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch“, rief der redselige Chronist des bundesdeutschen Kleinbürgertums, das er in der Literatur so glaubwürdig repräsentiert wie Helmut Kohl in der Politik. GG, fügte er hinzu, habe „dem aufpasserischen Moralklima“ in Deutschland „eine Lektion erteilt“.
Hatte der Bekenner diese Absicht? Beklagte er in seinem Dialog mit Schirrmacher nicht, ganz im Gegenteil, die deutschen Schwierigkeiten mit der „Bewältigung“ und den „ganzen katholischen Mief“ der angeblich so grundverlogenen fünfziger Jahre, dem er die Schuld an der „Spießigkeit“ der „damals propagierten Gesellschaft“ zuschob, von der er meint, es habe sie (so) „nicht einmal bei den Nazis gegeben“? Denn „die Nazis“ hätten „auf oberflächliche Weise eine Art Volksgemeinschaft etabliert. Klassenunterschiede oder religiöser Dünkel durften da keine vorherrschende Rolle spielen“. Volksgemeinschaft! Für den Sumpf der Epoche steht noch immer der Name Adenauer.
Es ist leider anzunehmen, dass der Dichter die Nachkriegsepoche so wenig verstand wie einst das Dritte Reich: im Kern seines Wesens ein unpolitischer und darin erzdeutscher Mensch. Es fiel ihm seitdem nicht auf, dass der alte Herr von den Nazis aus dem Amt getrieben und wenigstens zweimal eingebuchtet war. Dass er mit seiner christdemokratischen Union die religiösen Differenzen der Konfessionen aus der deutschen Politik verbannt hat. Dass er mit seiner Equipe die Basis jenes Sozialstaates schuf, den wir heute nicht mehr bezahlen können. Dass der Urkanzler zusammen mit seinen Freunden Alcide des Gasperi, Robert Schuman, Paul-Henri Spaak (der Sozialist war), mit dem genialen Planer Jean Monnet und später mit General de Gaulle das Fundament des vereinten Europa aus den Trümmern gestampft hat. Wohl wahr, dass es der Alte versäumte, die deutsche Justiz, an der das Blut und die Rechtsverachtung des totalitären Staates klebten, zu einer Selbstreinigung zu zwingen. Wahr, dass er den fatalen Globke in einer Schlüsselposition neben sich geduldet hat. Wahr freilich auch, dass jener Globke – aus welchen Motiven auch immer – als der Hauptpartner Nahum Goldmanns, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, bei den Verhandlungen über die Wiedergutmachung im Segen gewirkt und damit die Tür für die Verständigung des deutschen Kanzlers mit Ben Gurion, Israels großem Regierungschef, leise geöffnet hat: Ironie der Geschichte.
Wie wenig GG bis auf den heutigen Tag willens und in der Lage ist, die Wirklichkeit klar ins Auge zu fassen, signalisiert sein Ausbruch gegen Kurt-Georg Kiesinger, den er im Schirrmacher-Gespräch einen „Großnazi“ nannte. Kiesinger aber war nichts als ein agiler Opportunist, Mitglied der NSDAP, weil sich dies für seine Anwaltskarriere empfahl; 1940 ließ er sich ins Auswärtige Amt berufen, da er es vorzog – was zu verstehen ist –, sich vor dem Dienst an der Front zu drücken. Er wurde der Presseabteilung zugeteilt, zuständig fürs Radio, einer Unterabteilung, zu deren stellvertretender Leitung er 1943 aufgerückt ist: ein minderer Propagandist, für den vielleicht zutraf, was der donnernd konservative H.G. von Studnitz von den Herrn in der Berliner Wilhelmstraße zynisch bemerkte: dass sie zwölf Jahre lang gegen Hitler gefrühstückt hätten.
Aber ein „Großnazi“? Damit beleidigte GG noch posthum seinen Freund Willy Brandt, der sich mit einem Monstrum dieser Sorte kaum an den Kabinettstisch gesetzt hätte, und er schmälert, was er selber für die „Es-Pe-De“ zu leisten vermochte: Es war viel. Auf einem anderen Blatt steht, dass er den großen Freund mitunter durch seine ewig beleidigte Egozentrik und seine sägende Rechthaberei ziemlich genervt hat, der ihn darum auch lieber auf Distanz hielt.
Die Konfession im Beichtstuhl des Abbé Schirrmacher liefert den peinigenden und peinlichen Beweis, dass GGs spätes, allzu spätes Geständnis den penetranten Moralismus des Praeceptor Germaniae et mundi keineswegs gebrochen hat. Noch immer ragt der Zeigefinger einschüchternd in die Höhe – als sei er dort oben festgefroren. Die moralische Mission wurde ihm, so künstlich sie sein mochte, gewissermaßen zur zweiten Natur, samt einer Riesenportion Eitelkeit. Darum brachte er es niemals übers Herz, mit der Wahrheit herauszurücken. Auch nicht als Reagan und Kohl unter dem Geheul der empörten Gesinnungsgarde zum Soldatenfriedhof von Bittburg pilgerten, auf dem auch einige Tote der Waffen-SS lagen: GG sprach damals voller Entrüstung von einer „Geschichts-klitterung“, die „Juden, Amerikaner und Deutsche, alle Betroffenen gleichermaßen verletze“. Der Dichter klitterte halt mit. Dies war ihm offensichtlich zu einem -Lebenselement geworden. Der Heuchler weiß selten, dass er heuchelt.
Deswegen dachte er vermutlich auch nicht daran, dem Nobelpreis-Komitee nach der Verkündung der Wahl die Korrektur seiner Biografie zu offenbaren. Der Allesschreiber Helmut Karasek, seit geraumer Zeit im Dienste bei Springer, vermutete in einer eiligen Äußerung, die Furcht vor einem drohenden Verlust der ersehnten Nobelitierung habe GG davon abgehalten, sein Schweigen zu brechen.
Und warum jetzt? Auch dafür weiß Karasek, der tief in sein eigenes Gemüt geblickt haben mag, eine schlüssige Auskunft zu präsentieren: Vielleicht, meinte der branchenkundige Alt-Routinier, hätte sich GG von einem „marketingtechnischen Gesichtspunkt hinreißen“ lassen, mit anderen Worten: Der Coup diene der Propagierung seines Erinnerungsbuches. Karaseks Denunziation präsentiert sich zwar in einem miserablen Deutsch, dafür aber ist sie infam.
Bleibt die Frage, warum der Dichter die Frankfurter -Allgemeine Zeitung als sein Forum gewählt hat. Um an der einstigen Wirkungsstätte seines härtesten Kritikers Marcel Reich-Ranicki vor die Öffentlichkeit zu treten? Das seriöse Blatt machte mit der Enthüllung auf: „Marketingtechnisch“ entsprach dies ganz dem Stil der Bild-Zeitung, deren Chefredakteur dem FAZ-Herausgeber freundschaftlich verbunden ist. Kai Diekmann wurde von Schirrmacher rechtzeitig genug informiert, um die Sensation gleichen Tages wie die FAZ auf Seite eins als zweite Schlagzeile neben Eva Hermans Abschied von der „Tagesschau“ platzieren zu können. Auch Spiegel-Chefredakteur Aust, ein anderer Freund, wurde früh genug unterrichtet: Er durfte vor Redaktionsschluss noch Altmeister Fest zum Interview bitten. Das middle aged stars network, das der FAZ-Herausgeber so sorgsam zusammengebastelt hat, funktionierte störungsfrei. GG aber hätte vorausahnen können, dass der Großregent des deutschen Feuilletons, der flugs mit eigenen Statements in ZDF und ARD auftrat, den Dichter – trotz des scoops, der ihm geschenkt wurde – im fälligen Leitartikel nicht mit sentimentaler Wattierung schonen werde. Ach, wie recht der Wieselmann mit seiner Schlussbemerkung doch hat: „Das Leben (ist) kein Hollywood-Film…, in dem man immer auf Seiten des Guten das Kino verlässt.“
Er sprach uns aus dem Herzen – und dennoch bietet sich zum Ende ein sanft melancholisches Lächeln an. Nicht ohne Rührung erwähnen wir Grassens Erzählung, er habe sich im amerikanischen Gefangenenlager von Bad Aibling mit einem Schicksalsgenossen gleichen Alters austauschen können: Der habe von der Kirche geschwärmt, er von der Kunst. Joseph habe der „äußerst katholische nette Kerl“ geheißen. So dürfen wir – Ende gut, alles gut (na, wirklich?) – ein kleines Ratzinger, ein Benedikt-Tränchen vergießen. Nicht nur wir sind, nein, auch GG ist Papst – und er ist es noch immer mehr als wir alle. Literaturpapst bleibt er. Gesinnungs-, Moral-, Politikpapst eher nicht.

Klaus Harpprecht ist Journalist und Schriftsteller. Über den Fall Grass schreibt er auch im Septemberheft der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, deren Mitherausgeber er ist

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