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(picture alliance) „Dass Kinder in Deutschland in Armut aufwachsen, verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention“

Kinder in Hartz IV - „Denkt Kristina Schröder bei Armut an Kalkutta?“

Die Sozialwissenschaftlerin Margherita Zander geht hart gegen das Armutsverständnis von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder ins Gericht. Durch falsche politische Entscheidungen habe sich die Kinderarmut in Deutschland in den letzten Jahren verschlimmert, sagt Zander im Cicero-Online-Interview

Seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze 2005 hat sich die Zahl der in relativer Armut lebenden Kinder verdoppelt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beklagte im September, dass die Aufstiegschancen für Kinder aus ärmeren Verhältnissen in kaum einem anderen der 33 OECD-Ländern derart schlecht seien wie in der Bundesrepublik.

 

Das Thema Kinderarmut ist nicht neu. Genau genommen wird in Deutschland seit 1998 darüber debattiert. Hat sich die Situation seither grundlegend verbessert?
Nein, die Armutsquoten sind seitdem weiterhin kontinuierlich gestiegen und materiell hat sich die Situation für die Betroffenen keineswegs verbessert. Ich erinnere nur an zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts, das zunächst die unzureichende Ausgestaltung der Kinderregelsätze moniert sowie in einem weiteren Urteil dann das Niveau der Regelsätze grundsätzlich kritisiert und eine Nachbesserung durch die Politik gefordert hat. Man könnte auch internationale Befunde anführen: So bescheinigt Unicef der Bundesrepublik (zuletzt im Mai 2012) im Vergleich zu anderen Industrienationen nur einen mittleren Rang. Die Zweite World Vision Kinderstudie kommt zu dem Schluss, dass es Sozialleistungsbeziehern heute schlechter als vor 20 oder 30 Jahren geht.

Unterschätzt die Politik das Thema?
Ob sie das Problem nicht in seiner vollen Tragweite erfasst oder ob sie es gar sehenden Auges vernachlässigt, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, dass sie ihm nicht die gebührende Priorität einräumt. Hier würde ich auch zwischen den Parteien, die seit 1998 Regierungsverantwortung getragen haben, nur graduelle Unterschiede machen. Bisher ist es eher ein Thema, das von einzelnen Politikerinnen und Politikern aufgegriffen wird. Mag sein, dass „Kinderarmut“ mittlerweile in allen Parteiprogrammen auf der Agenda steht. Aber weit nach vorne rückt das Thema nur punktuell, wenn es angebracht erscheint, Engagement zu zeigen wie am Weltkindertag, oder wenn auf die eine oder andere Weise alarmierende Zahlen und Folgewirkungen veröffentlicht werden.

Konzepte wurden in den vergangenen Jahren zuhauf vorgelegt. Fehlt es schlicht an politischem Willen?
Ja, das galt für die rot-grünen Regierungen nach 1998 und trifft umso mehr auf die heutige Regierung zu. Bände für den Umgang von Politik mit der Problematik spricht beispielsweise, dass Ursula von der Leyen – damals noch Familienministerin (2008) – ein Dossier herausgegeben hat, in dem sie einerseits dokumentiert, dass Kinderarmut unter Rot-Grün weiter angestiegen ist: Man schiebt also dem anderen die Schuld daran in die Schuhe. Andererseits listet sie darin lauter Maßnahmen auf, die unter ihrer Ägide erfolgt seien, mit denen dem Problem zu Leibe gerückt worden sei.

Dem ist nicht so?
Nein, allein schon die weiterhin hohen Armutszahlen sprechen dagegen. Wir können hier gerne auf einzelne Maßnahmen eingehen und sie dahin gehend durchleuchten, ob sie wirklich so angelegt sind, Kinder- und Familienarmut ernsthaft zu „bekämpfen“, wie es im politischen Jargon unkorrekter weise heißt. Was, bitteschön, wird bekämpft? Wenn schon, dann werden allenfalls die Folgen von Armut, nicht aber ihre Ursachen ernsthaft bekämpft.

Aber im Antrag „Faire Chancen für alle Kinder“ der Familienministerin Kristina Schröder von 2010 war zu lesen, dass „von der CDU-geführten Bundesregierung […] ein Bündel an gezielten Maßnahmen entwickelt [wurde], das Familien und Kinder vor Armut schützt.“
Der Erfolg von armutsbekämpfenden Maßnahmen müsste sich vom Ergebnis her beurteilen lassen. Konnten wir in den letzten Jahren tatsächlich einen Rückgang der Kinderarmutszahlen feststellen? Doch wohl nicht! In dem Antrag heißt es, dass staatliche Leistungen die Lebensgrundlagen von Familien absichern und Kinder vor Armut schützen. Warum haben wir dann nach wie vor 1,6 Millionen Kinder, die im Hartz IV-Bezug leben mit seinen beschämend niedrigen Kinderregelsätzen? Indirekt gehen wohl auch Kristina Schröder sowie ihre Vorgängerin davon aus, dass, wer staatliche Sozialleistungen bezieht, nicht arm sei. Denn: „wirklich arm“ – so ihre Worte – „sind die allermeisten Kinder und Familien nicht.“ Fragt sich nur, welche Vorstellung von Armut Frau Schröder hat. Denkt sie etwa an Kalkutta?

Seite 2: Warum die Politik die Kinderarmut in Deutschland verschlimmert hat

Was ist mit dem Kinderzuschlag? Das Bundesministerium für Familie behauptet, dieser „leistet einen Beitrag, Armutsrisiken für Familien und Kinder zu vermeiden“ und führe „zu spürbaren Einkommensverbesserungen bei Familien im Niedriglohnbereich“.
Der Kinderzuschlag hat eine begrenzte Zielgruppe im Blick, und zwar Familien, in denen trotz Erwerbseinkommen aufstockende Hartz IV-Leistungen bezogen werden oder beansprucht werden könnten. Also so genannte „Aufstocker.“ Der Kinderzuschlag ist nicht dazu gedacht, die Einkommenssituation dieser Familien tatsächlich zu verbessern, sondern lediglich zu verhindern, dass sie trotz Erwerbstätigkeit Hartz IV-Leistungen beziehen müssen. Der Kinderzuschlag zielt in erster Linie auf eine Verringerung der Armutszahlen ab.

Und das Betreuungsgeld? Wie stehen Sie dazu?
Ich bin entschieden dagegen – und dazu hätte es nicht erst der deutlichen Warnung des Bundesbildungsberichts bedurft. Ohne hier auf die verschiedenen Gegenargumente einzugehen, nur eines: Die Einführung eines Betreuungsgeldes, das an die Nicht-Inanspruchnahme von öffentlicher Kinderbetreuung gekoppelt wäre, würde vor allem dazu führen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien zu Hause betreut würden. Damit wäre endgültig die Chance vertan, diese Kinder durch entsprechende außerfamiliäre Angebote zu fördern, obwohl gerade sie – stärker als andere – darauf angewiesen wären. Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass Erziehungsarbeit von der Gesellschaft mehr anerkannt werden müsste und auch honoriert werden sollte – aber dazu brauchen wir ganz andere Konzepte.

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Frau von der Leyen sagte einmal, ein Mindestlohn würde das Armutsrisiko von Familien erhöhen. Stimmen Sie dem zu?
Das ist eine sehr strittige Aussage. Ich meine, mit einem wie auch immer gestalteten Mindestlohn sollte Erwerbstätigkeit in jedem Fall ein existenzsicherndes Einkommen garantieren. Damit hätten wir zumindest einen Teil der Armutsproblematik im Griff.

Statt eines Mindestlohns haben wir Minijobs, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Hartz-IV. Hat die Politik mit ihren Maßnahmen die Kinderarmut in Deutschland verschlimmert?
Die Hartz-IV-Gesetzgebung eindeutig zu einem Anstieg von Sozialleistungsbeziehern und Kindern geführt, die so unter die Armutsgrenze gerutscht sind.
Was Minijobs und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse betrifft – und dabei denke ich nicht an Nebenjobs –, so führen diese häufig zu dem Phänomen, das in Fachkreisen mit dem Fremdwort des „working poor“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit, dass Menschen trotz Erwerbstätigkeit kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Das ist ursächlich sicherlich auf Niedriglöhne zurückzuführen, aber eben auch auf gesetzliche Regelungen, die solche Beschäftigungsverhältnisse begünstigen.
Aktuell wird die Zahl derjenigen, die von Armut bedroht sind, obwohl sie einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen, in der Bundesrepublik auf knapp drei Millionen geschätzt – und natürlich sind dabei auch Familien mit Kindern.

Seite 3: Deutschland verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention

Könnten wir in der Bekämpfung von Kinderarmut eigentlich schon viel weiter sein? Hat die Politik bisher versagt?
Ja, das hat sie. Den nordischen Ländern beispielsweise gelingt es offensichtlich besser, Kinderarmut niedrig zu halten. Nehmen wir die aktuellste Kinderarmutsstudie von UNICEF, die im Mai 2012 veröffentlicht wurde. Unicef hat damit zum ersten Mal nicht nur einen Vergleich auf der Basis von Einkommensarmut vorgenommen, sondern auch einen „Index der Entbehrungen“ aufgestellt, der 14 Positionen beinhaltet und mit dem die tatsächlichen fühlbaren Auswirkungen von Kinderarmut gemessen werden. Das reicht von warmen Mahlzeiten und gesunder Ernährung über Kleidung bis hin zur Möglichkeit, an Schulausflügen teilnehmen, ab und zu Freunde einladen und Geburtstage oder religiöse Feste feiern zu können. Sowohl in der einen wie auch in der anderen Rangliste stehen die nordischen Länder jeweils in unterschiedlicher Positionierung an der Spitze. Und wo steht da die Bundesrepublik? Im Vergleich von Einkommensarmut steht sie auf Platz 13 von 35 Industrieländern, und noch schlimmer – beim gemessenen Index der Entbehrungen erreicht sie lediglich Platz 15 von 19 Vergleichsländern. Sie hat also wenig Grund, überheblich und selbstzufrieden zu sein.

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Was müsste getan werden?
Ich bin eine entschiedene Verfechterin einer bedarfsgerechten „Kindergrundsicherung“, wie sie auch von einem Bündnis gleichen Namens gefordert wird. Länder und Kommunen sind gefragt, vor allem letztere sind ja viel näher an der Alltagsrealität dieser Familien dran. Nicht nur in sozialen Brennpunkten müsste es viel mehr den Kindern zugängliche Angebote geben. Die Bundesländer können durch Modellprojekte Impulse geben, wie dies landauf, landab auch geschieht. Wichtig ist aber, dass es nicht bei einzelnen Initiativen bleibt, die zudem auch noch nach einigen Jahren auslaufen oder davon abhängig bleiben, wer gerade regiert. Wenn sich so ein Projekt herumgesprochen hat und funktioniert, dann muss es auch weiterlaufen!

Verspielen wir unsere Zukunft?
Ja. Die Politik redet gerne vom sogenannten „Humankapital“, das es zu fördern gelte. Mir geht es jedoch darum, hervorzuheben, was Aufwachsen in Armut für die davon betroffenen Kinder bedeutet. Wir dürfen wir nicht vergessen, dass wir diesen Kindern vieles verbauen, was sie sonst möglicherweise in ihrem Leben erreichen könnten. Der Nobelpreisträger Amartya Sen hat hierfür den Begriff der „verweigerten Verwirklichungsmöglichkeiten“ geprägt. Noch gravierender: Dass Kinder in einem reichen Land wie der Bundesrepublik in Armut aufwachsen, stellt eindeutig einen Verstoß gegen die in der UN-Kinderrechtskonvention enthaltenen Rechte dar.

Frau Zander, vielen Dank für das Gespräch.

Margherita Zander ist Forscherin für Sozialpolitik der Fachhochschule Münster. Seit mehr als 15 Jahren erforscht sie die Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland.

Das Interview führte Jana Illhardt.

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