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(picture alliance) Internet-Kapriolen – Manchmal würde man am liebsten den Stecker ziehen

Wulff und die Kredit-Affäre - Das Netz als Gosse

Netzaktivisten schwärmen von der demokratischen Öffentlichkeit der digitalen Medien, sie wehren sich gegen jeden staatlichen Eingriff, schreien sofort „Zensur“, wenn der Staat im Internet Regeln etablieren will. Doch die Netz-Debatten um den Bundespräsidenten zeigen: Die Internetuser werden ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht. Ein Kommentar

(Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien Ende 2011 bei CICERO ONLINE)

Die Kredit-Affäre scheint der Bundespräsident vorerst überstanden zu haben, er hat sich zwei Tage vor Heiligabend öffentlich erklärt, Fehler eingeräumt, Bedauern geäußert und seinen Sprecher entlassen. Nach den Skandalierungsregeln des Medienbetriebes wird die Aufmerksamkeit jetzt abnehmen und die Schlagzeilen werden wieder kleiner. Es werden ein paar Blessuren bleiben, aber Christian Wulff hat im kommenden Jahr jede Gelegenheit, seine präsidiale Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dass jetzt Weihnachten kommt, hilft. Wer will schon in den besinnlichen Tagen politischen Krawall inszenieren? Selbst Journalisten freuen sich auf ein paar freie Tage. Und die Bild-Zeitung schmückt sich für ein paar Ausgaben nicht mit einem Pin-up-Girl, sondern mit der Heiligen Jungfrau Maria.

Man sah es dem Bundespräsidenten in seiner kurzen Ansprache am Donnerstag an, wie schwer es ihm fiel, über den „Grenzbereich zwischen Dienstlichem und Privatem“ zu sprechen. Aber immerhin räumte er ein, dass es für Politiker wichtig ist, „zwischen Amt und privat die erforderliche Transparenz herzustellen“.  Auch für Journalisten ist es heikel, über Vorwürfe gegen Politiker in diesem Grenzbereich zu berichten. Denn wie jeder andere Mensch hat auch der Bundespräsident ein Recht auf eine Privatsphäre. Die ist für Journalisten und Medien tabu.

Sieht man von einigen wenigen Grenzübertretungen ab, dann haben sich die traditionellen Medien in der Berichterstattung der letzten Tage über Christian Wulff, seinen Privatkredit und Urlaubsreisen im Großen und Ganzen an die journalistischen Regeln, die für eine demokratische Gesellschaft existenziell sind, gehalten.

Nur im Internet scheinen diese Regeln nicht zu gelten. Dort kursieren über Christian Wulff und seine Freunde, sein Privatvermögen und über sein Privatleben die wildesten Gerüchte und Viertelwahrheiten. Nichts ist bewiesen, manches erstunken und erlogen. Einige anonyme Blogger kennen dabei kein Tabu mehr, für sie scheinen weder die Regeln des Anstands noch das Presserecht zu gelten. Es gibt für die Betroffenen kaum Möglichkeiten, dagegen juristisch vorzugehen – und keinen Presserat, der mahnend seine Finger heben könnte. Der Bundespräsident steht dem völlig hilflos gegenüber.

Schleichend breitet sich das Gift der üblen Nachrede in der digitalen Welt aus. Irgendwann werden auch die traditionellen Medien sich diesem Gift nicht länger entziehen können. Und sei es, dass die Bild-Zeitung sich schließlich voller Verlogenheit über die „üblen Gerüchte im Internet“ empört. Man muss nicht prüde sein, um festzustellen, dass sich das Internet zur Gosse entwickelt hat. 

Welch ein Kontrast. Schließlich singen gerade Netzpolitiker und Internetaktivisten gerne das Hohelied der digitalen Demokratie. Sie schwärmen von einer demokratischen Öffentlichkeit der digitalen Welt, in der nicht mehr sogenannte Konzernmedien, sondern unabhängige Blogger und aufgeklärte User den Takt vorgeben. Doch nun zeigt sich, wie eklatant die Netzcommunity in der Kreditaffäre um den Bundespräsidenten versagt. Es scheint keine verantwortungsvolle demokratische Öffentlichkeit im Internet zu geben, keine Selbstregulierungskräfte, die den Dreck zurückweisen, gegebenenfalls deren Löschen veranlassen.  Es gibt keine Regeln und vor allem keine Sanktionsinstanz, die bei Regelverletzungen einschreitet. Jeder kann schreiben, was er will, gegebenenfalls auf einem ausländischen Server, der sich bundesdeutschen Gesetzen entzieht.

Die Liquid Democracy sieht aus der Nähe betrachtet also bisweilen wie der gute alte Stammtisch aus, nur im Weltformat. Staat ist damit nicht zu machen. Und dieselben Netzaktivisten, die als allererstes „Zensur“ oder „Überwachungsstaat“ schreien, wenn der Gesetzgeber versucht, im Internet rechtliche Regeln und juristische Sanktionsmöglichkeiten zu etablieren, schweigen zu diesem Internet-Skandal. Es mag sein, dass manches, was im Bundestag diskutiert wird, wenig hilft. Es mag sein, dass viele Politiker noch nicht verstanden haben, wie die digitale Medienwelt funktioniert. Es mag sein, dass die etablierte Politik dem Internet begegnet wie ein Neandertaler dem Telefon. Aber immerhin versuchen sie, ihrer gesellschaftlichen und demokratischen Verantwortung nachzugehen. Dabei muss der Gesetzgeber handeln, um das demokratische Gemeinwesen und die Betroffenen gleichermaßen zu schützen und es geht dabei mitnichten um die Privilegien eines Repräsentanten dieses Staates.

Es betrifft alle, denn wenn im Internet jeder über jeden alles verbreiten darf, wenn dort das Recht auf Privatsphäre eklatant und bis in das Intimleben hinein verletzt wird, ohne dass sich die Opfer wehren können, dann schlägt im Internet nicht länger das Herz einer digitalen Demokratie. Stattdessen bildet es den Nukleus einer totalitären Gesellschaft.

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