- „Bayern betreibt ängstliche Verhinderungspolitik“
Er hat die Satirefigur „Storch Heinar“ mitentwickelt, um damit ein in der rechtsextremen Szene beliebtes Modelabel zu karikieren, jetzt ist er der oberste Chef aller Geschichtslehrer: Der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Brodkorb, fordert im Cicero-Interview die Veröffentlichung von Hitlers „Mein Kampf“
In der Novemberausgabe beschäftigt sich der Cicero mit dem Streit um Hitlers "Mein Kampf". Das Heft ist am Kiosk und auch im Online Shop ab sofort erhältlich.
Herr Brodkorb, Sie sind Bildungsminister in einem
Bundesland, in dem die rechtsextreme Szene besonders aktiv ist.
Wenn am 1. Januar 2016 der Urheberrechtsschutz für Adolf Hitlers
„Mein Kampf“ entfällt, kann im Prinzip jeder das Werk nachdrucken.
Fürchten Sie sich vor dem Datum?
Nein, überhaupt nicht.
Sehen Sie keine Gefahr, dass die rechtsextreme Szene
dann „Mein Kampf“ zu einer Art Hausbibel macht?
Die einzige Gefahr, die ich sehe, besteht darin, dass irgendein
rechtsextremer Verlag eine Ausgabe von „Mein Kampf“ auf den Markt
bringt und damit Geld verdient, mit dem dann wiederum rechtsextreme
Projekte unterstützt werden. Ich glaube allerdings nicht, dass von
einer Veröffentlichung dieses Buches eine politische Gefahr im
engeren Sinne ausgeht.
Sie glauben nicht, dass manch historisch unbedarfter
Leser die falschen Schlüsse aus „Mein Kampf“ ziehen
könnte?
Ehrlich gesagt, wer die 800 Seiten von „Mein Kampf“ je gelesen hat,
der weiß auch, dass das über weite Strecken so ein krudes und
langweiliges Zeug ist, dass man aufpassen muss, bei der Lektüre
nicht einzuschlafen. Mal ganz davon abgesehen, kann sich jeder, der
über einen Internetzugang verfügt, die komplette Ausgabe von „Mein
Kampf“ herunterladen. Es gibt im Internet ja sogar Audioversionen
von „Mein Kampf“, bei denen man nicht einmal mehr selbst lesen
muss, sondern alles vorgelesen bekommt.
Ich zitiere jetzt eine Passage aus „Mein Kampf“: „Der
schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in
seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blut
schändet und damit seinem, des Mädchens Volke raubt.“ Warum sollten
solche Sätze wieder Verbreitung finden?
Wenn Sie Ihre These ernst nehmen, warum stellen Sie mir eine solche
Frage und tragen so selbst zur Verbreitung von Hitlers Schriften
bei? Zudem unterstellt Ihre Frage, dass etwas nur dann existiert,
wenn es auch in gedruckter Form vorliegt. Das ist aber nicht der
Fall. Gerade junge Leute beziehen ihr Wissen heutzutage nicht
vorrangig aus Büchern, sondern vor allem aus elektronischen Medien.
Und „Mein Kampf“ kann, wie gesagt, im Internet aus Tausenden
unterschiedlichen Quellen heruntergeladen werden, einschließlich
des Satzes, den Sie hier zitiert haben. Mal ganz davon abgesehen,
dass auch im deutschen Buchhandel etwa Hitlers politische
Jugendschriften verfügbar sind. Ebenso eine vierbändige Ausgabe der
Schriften von Adolf Hitler aus den Jahren 1933 bis 1945 sowie eine
wissenschaftliche Ausgabe für die Zeit dazwischen. Es sind also
ungefähr 95 Prozent des Hitler’schen oevres im Buchhandel frei
verfügbar – nur eben nicht „Mein Kampf“.
Nun steht „Mein Kampf“ aber gewissermaßen
stellvertretend für die gesamte Nazi-Ideologie. Bayerns
Kulturstaatssekretär Bernd Sibler gab deswegen unlängst zu
bedenken, wenn Touristen in der Nähe des ehemaligen
Konzentrationslagers Dachau in einen Buchladen kämen und dort auf
„Mein Kampf“ stießen, gäbe es zu Recht einen Skandal. Liegt der
Mann denn völlig daneben?
Ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn man in dem gleichen
Buchladen Landser- Hefte kaufen kann, die Tagebücher von Joseph
Goebbels oder Hitlers „Zweites Buch“ – was ja heute schon völlig
legal ist. Ich glaube einfach, der bayerische Kulturstaatssekretär
hat sich mit dem ganzen Thema so wenig beschäftigt, dass er gar
nicht weiß, was es im deutschen Buchhandel alles zu kaufen gibt,
und zwar ganz offiziell.
Woher rührt denn dann Ihres Erachtens diese
offensichtliche Tabuisierung von „Mein Kampf“?
Ich glaube, dass hier ein Generationenproblem zugrunde liegt.
Gerade die ältere Generation in unserem Land hat „gelernt“, dass
man ein Problem am besten von sich fernhält, indem man die Augen
davor verschließt oder dafür sorgt, dass andere es nicht sehen.
Dahinter steht ja so etwas wie der Gedanke, dass Hitlers Schrift so
genial und gerissen formuliert sei, dass man durch die Lektüre
gewissermaßen codiert wird und keine Chance hat, sich dagegen zu
wehren. Aber das ist doch lächerlich. Hitler war zwar ein großer
Verbrecher, aber kein Magier. Und aus dem Impuls, die Wirkung von
„Mein Kampf“ zu überhöhen, rührt dieser Wegschließreflex. Dagegen
hilft nur eines: das Buch nicht nur zugänglich zu machen, sondern
auch kritisch zu reflektieren. Und stellen Sie sich nur mal vor,
wie langweilig „Mein Kampf“ wäre, wenn es in der Schule
durchgenommen würde. Aber seit es das Internet gibt, tickt die Welt
ohnehin ganz anders.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Mathias Brodkorb „Mein Kampf" entmytifizieren will
Sie wollen „Mein Kampf“ entmystifizieren, indem Sie das
Buch ganz offiziell und für jeden zugänglich machen?
Unbedingt. Als ich noch zur Schule ging, brachte ein Mitschüler
eines Tages eine in Leder gebundene Ausgabe von „Mein Kampf“ mit.
Und alle anderen starrten auf dieses Buch, als handele es sich um
eine Reliquie. Diese Faszination ergab sich aber ausschließlich aus
der Tatsache, dass „Mein Kampf“ nicht normal zugänglich ist. Auf
diese Weise spielt da etwas herein, das ich als „unaufgeklärte
Faszination des Bösen“ bezeichne, etwas Quasireligiöses in
negativer Wendung. Dagegen hilft nur Entmystifizierung durch
nüchterne Aufklärung.
Trotzdem hat der Freistaat Bayern als Inhaber der
Nutzungsrechte vor einigen Monaten verhindert, dass der britische
Historiker Peter McGee kommentierte Auszüge aus „Mein Kampf“ an die
Kioske bringen konnte …
Ein völlig absurdes Vorgehen, zumal sich die Sache nach Ablauf des
Urheberrechtsschutzes in drei Jahren sowieso erledigt hat. Was
Bayern da betreibt, ist eine ängstliche und rückschrittliche
Verhinderungspolitik.
Sie selbst haben schon im Jahr 2003 ausgerechnet in der
ehemaligen „Kraft durch Freude“-Ferienanlage Prora auf Rügen vor
Jugendlichen aus „Mein Kampf“ gelesen. Wie kam es
dazu?
Das Land Mecklenburg-Vorpommern hatte damals beschlossen, Prora
symbolisch zurückzuerobern und dort ein großes Jugendfest zu
feiern. Um diese Veranstaltung politisch einzubetten, haben wir
eine Reihe von Workshops angeboten, bei der es auch um die
Nazi-Ideologie ging, die ja nicht zuletzt zum Bau dieser
gigantischen Ferienanlage geführt hat. Und da haben wir in der Tat
diese Lesung aus „Mein Kampf“ abgehalten.
Ohne in Bayern vorher um Erlaubnis zu
fragen?
Selbstverständlich.
Haben Sie damit eine Rechtswidrigkeit
begangen?
Das mögen die Bayern beurteilen. Ich meine, ich habe damals einen
guten Beitrag zur Aufklärung geleistet.
Und wie haben die Jugendlichen auf „Mein Kampf“ reagiert?
Wir hatten danach eine sehr ruhige und sehr sachliche Debatte – unter anderem darüber, ob man versuchen soll, diese Schrift vor jungen Leuten geheim zu halten. Von 200 anwesenden Jugendlichen haben sich ungefähr 195 dafür ausgesprochen, dieses Buch ganz normal zugänglich zu machen und in den Schulen kritisch zu behandeln.
Stellen Sie sich vor, „Mein Kampf“ würde vom 1. J anuar
2016 an zu einem Bestseller im deutschen Buchhandel. Das wäre doch
eine ziemliche Katastrophe schon allein für das Ansehen der
Bundesrepublik im Ausland.
Nein, das wäre weder eine Katastrophe, noch ließe es Rückschlüsse
auf den politischen Zustand der Bundesrepublik Deutschland zu. Es
wäre vielmehr eine ganz natürliche Reaktion auf 70 Jahre
Wegschließpolitik.
Und wenn etwa die israelische Regierung darum bitten
würde, „Mein Kampf“ in Deutschland nicht zu veröffentlichen?
Könnten wir uns dieser Bitte widersetzen?
Wenn ich nicht falsch informiert bin, können Sie „Mein Kampf“ in
Israel sogar auf Hebräisch kaufen. Aber selbst wenn nicht: Kein
Staat der Erde hat das Recht, den Bürgern eines anderen
demokratischen Staates vorzuschreiben, was diese lesen dürfen und
was nicht. Auch Israel nicht.
Das Gespräch führte Alexander Marguier
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