Karteikarte von der Zentrale Erfassungsstelle.
() Karteikarte von der Zentrale Erfassungsstelle.
Archiv des Unrechts

Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter war der DDR ein Dorn im Auge und für einige Westpolitiker ein Hindernis der Entspannungspolitik. Bis 1989 schrieb sie an der Chronik der ostdeutschen Diktaturgeschichte. Was ist geblieben?

Lesen Sie auch: Cicero Dossier: Die DDR zwischen Ostalgie und Aufarbeitung Am ehemaligen Grenzübergang Marienborn trennen Stecknadeln die Bundesrepublik von der DDR. Auf einer alten Landkarte bohren sich 119 Nadeln in den Verlauf der einstigen Todesgrenze. Tragen sie schwarze Köpfe, sind Flüchtlinge erschossen worden, haben sie weiße Hauben, erledigten das die Selbstschussanlagen. Von Minenopfern und den vielen Ertrunkenen gar nicht zu reden. 119 Todesfälle, die der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter bekannt geworden sind. 119 Gründe, warum diese Behörde zu einer der wichtigsten und unbestechlichsten Beobachtungsstationen der ostdeutschen Diktatur wurde. Als „Relikt des Kalten Krieges“ von der DDR bekämpft, als Hindernis der Entspannungspolitik von westlichen Politikern infrage gestellt, war diese Behörde der Landesjustizverwaltungen eine Rechercheagentur für alles, was faul war im Staate Ulbrichts und Honeckers. Wer heute nach Salzgitter fragt, stößt auf die Karte und das blecherne Behördenschild in der Gedenkstätte Marienborn, auf den Aktenbestand im Koblenzer Bundesarchiv und auch auf Ressentiments. Dabei spricht die Ermittlungsbilanz eine klare Sprache: 42000 Gewaltakte, 190 vollendete Tötungen, 700 bis 800 versuchte Tötungen, 2700 Misshandlungen im Strafvollzug, über 34000 Verurteilungen aus politischen Gründen, 270 Tote an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Das kleine Örtchen Duderstadt-Brochthausen hat auf der Salzgitter-Karte drei Stecknadeln. Drei schwarze, eine weiße. Tief im Eichsfeld hat sich die Natur fast sämtliche Schneisen der Teilung zurückerobert. Dort, wo es vom Niedersächsischen etwas hügelig hinaufgeht ins Thüringische, hier steht heute eine dieser praktischen Rasthütten für Wanderer. Davor eine Tafel, die besagt, wie gefährlich der heitere Pfad einst war. So auch am 14.Dezember 1971. Der Tischlermeister Rudolf Ballhausen sitzt beim Abendbrot, als seine Großmutter hereinplatzt: „Rudi, da ist eben eine Mine hochgegangen. Da schreit ein Kind, du musst helfen.“ Er schnappt sich den Gymnasiasten Dieter Brämer und rennt los in Richtung innerdeutsche Grenze. 500 Meter vielleicht. Hinter dem Metallgitterzaun bietet sich ihnen ein Bild des Schreckens. Im Grenzstreifen ist die Flucht einer jungen Familie gescheitert. Der Mutter hat eine Mine den Unterschenkel abgerissen, der Vater liegt, von der Detonation getroffen, auf der anderen Seite des Zaunes, das 13 Monate alte Kleinkind ist durch die Wucht der Explosion fortgeschleudert worden und bewegt sich nicht mehr. Die Grenzposten der DDR haben bei ihrem Streifengang von all dem nichts mitbekommen. Mit einem Spaten versuchen sich die Helfer aus dem Westen unter dem Zaun hindurchzugraben, was misslingt. Sie drücken ein Loch in den Zaun. Als das Metall endlich nachgibt, kriecht Dieter Brämer durch den engen Spalt: „Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Überall lagen Minen. Zwanzig Zentimeter waren es noch bis zu dem Kind, aber ich dachte: Noch einen Schritt und du stirbst. Schließlich half mir ein Zöllner, kam ebenfalls durchs Loch gekrochen und reichte mir das Kind weiter.“ Der Zöllner tastet sich dann weiter zur schwer verletzten Frau, zieht sie hinüber auf die Westseite, dann durch das Loch – geschafft. Er löst seine Krawatte, um ihr das Bein abzubinden. Anderthalb Stunden höchste Gefahr, dann ist die junge Familie in Sicherheit. Als die Grenzer von der Patrouille zurückkehren, ist alles erledigt. Einer der Soldaten wirft das abgetrennte Bein in Richtung Westen. Keiner hat diesen widerlichen Akt vergessen, keiner diese mutige Rettungsaktion. Die Mutter wird später an den Spätfolgen ihrer Verletzung sterben, das Kleinkind von damals aber ist heute eine junge Frau von 38 Jahren, die es hinaus in die Welt gezogen hat. Mitte der neunziger Jahre werden Rudolf Ballhausen, heute 78, und der inzwischen 53-jährige Dieter Brämer schlagartig an die Schicksalsnacht im Dezember 1971 erinnert. Sie treten als Zeugen bei einem Prozess gegen ehemalige Grenzoffiziere in Erfurt auf. Dass es dazu kam, hat wieder mit der Zentralen Erfassungsstelle und den Protokollanten der Teilung zu tun. So sieht es jedenfalls Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann, der in den späten achtziger Jahren Vizechef der Behörde war. Die Jahre in Salzgitter haben ihn geprägt. Im Prinzip hat er den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, gut verstanden, als der am 5.September 1961 nur wenige Wochen nach dem Mauerbau seine Ministerpräsidentenkollegen in einem Fernschreiben um Hilfe bat, „allen Anhängern und Dienern des Pankower Regimes eindeutig vor Augen zu führen, dass ihre Taten registriert und sie einer gerechten Strafe zugeführt werden“. Brandt verglich die zu schaffende Behörde mit der Ludwigsburger Einrichtung, die Naziverbrechen aufarbeitete. Er schrieb: „Wegen der nahezu völligen Identität der jetzt vom SED-Regime in der Zone und in Ostberlin angewandten Methoden mit denen des Nationalsozialismus dürfte die Ludwigsburger zentrale Stelle für die nunmehr erforderlichen Ermittlungen besonders gut geeignet sein.“ Ob sich der Entspannungspolitiker Brandt an diese Sätze noch erinnerte? Wer würde einen solchen Vergleich heute noch wagen? Für Grasemann war Salzgitter das „Archiv des Unrechts“ schlechthin. Und das, obwohl man sich juristisch gesehen oft genug mit symbolischen Handlungen begnügen musste. Die abgeordneten Staatsanwälte aus den Ländern ermittelten oft gegen unbekannt, kannten bei Zwischenfällen an der Grenze allenfalls das Regiment oder die Einheit, selten den Schützen. In den meisten Fällen fehlten Unterlagen von DDR-Seite, die das ganze Verbrechen hätten erhellen können. Zudem konnte nur in der Bundesrepublik Anklage erhoben werden. Dennoch ging es darum, alles zu wissen, um für den Tag X gewappnet zu sein. Man stützte sich auf Ermittlungen des Bundesgrenzschutzes, des Zolls und letztlich auf die Aussagen freigekaufter Häftlinge. „Wir hatten nie das Gefühl, für den Papierkorb zu arbeiten. Gerade von politischen Gefangenen habe ich immer wieder gehört, wie wichtig Salzgitter für die Inhaftierten in der DDR war. Die wussten, es gibt im Westen eine Dienststelle, die schreibt die Misshandlungen auf. Die Opfer haben sehr nüchtern in den Polizeiprotokollen geschildert, was sie erlebt hatten – nie mit Herzblut, nie mit Schaum vorm Mund.“ Kaum eine Behörde spaltete das politische Lager der Bundesrepublik so sehr wie Salzgitter. Dorothee Wilms, die letzte Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, sieht das Jahr 1984 als Zeitpunkt, an dem sich der parteiübergreifende Konsens auflöste. „Die SPD-Bundestagsfraktion bereitete ihr Sicherheitspapier mit der SED vor und hielt die Erfassungsstelle für nicht mehr zeitgemäß. Die Länder Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Bremen stiegen aus der Finanzierung aus. Viele Sozialdemokraten taten sich schwer mit dem Gedanken, die DDR weiterhin als totalitären Staat anzusehen“, sagt Frau Wilms. Dabei stand Salzgitter für keine Bundesregierung je zur Disposition, weder für Kohl noch für seinen Vorgänger Helmut Schmidt. Immer wieder, wenn DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker seine berühmten vier Forderungen wiederholte – Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Neuregelung der Elbgrenze und eben die Auflösung der Erfassungsstelle – hatte er mit einem harten Veto aus Bonn zu rechnen. Noch zu Beginn des Jahres 1989 stellten Schleswig-Holstein und Westberlin die Zahlungen für Salzgitter ein. Der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper kann darin noch immer keinen Fehler entdecken: „Das war damals eine Mode der Zeit. Der Nutzen von Salzgitter war nicht besonders groß, denn niemand wusste doch, wann die Wiedervereinigung kommen würde. Es war sozialdemokratisches Allgemeingut, dass man im Zuge der Entspannungspolitik hier der DDR am ehesten nachgeben konnte. Das sehe ich auch heute noch so.“ Auch Hans-Otto Bräutigam, in den achtziger Jahren Ständiger Vertreter in Ostberlin, attestiert Salzgitter „eine geringe praktische Bedeutung, weil sie registrierte, was passierte, Strafverfahren aber nicht möglich waren. Wir wollten nicht anklagen, sondern Probleme lösen. Es ging uns darum, den Schießbefehl und die Selbstschussanlagen wegzubekommen. Insofern war Salzgitter eine Anmerkung in den deutsch-deutschen Beziehungen.“ Nur der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Björn Engholm, sieht sein Salzgitter-Votum heute kritischer: „Wären wir damals im Besitz aller heutigen Kenntnisse über die DDR gewesen, hätte die Entscheidung vielleicht anders ausfallen können.“ Michael Hollmann, der im Bundesarchiv in Koblenz heute für die Salzgitter-Akten zuständig ist, glaubt: „Die Erfassungsstelle war wirklich der Stachel im Fleisch der DDR. Die Unterlagen sind schon eine extrem spannende Quelle. Es lässt sich ersehen, in welcher Weise das Rechtssystem der DDR Tabula rasa gemacht hat.“ Eine dicke Akte legte Salzgitter auch für Marietta und Siegfried Jablonski aus Magdeburg an, die im April 1971 von der Straße weg verhaftet wurden. Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Als der Prager Frühling 1968 von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde, kam es auch in Magdeburg zu Protesten. Einige davon allerdings anonym. Ein Briefeschreiber ließ dem SED-Blatt Volksstimme und anderen Staatsinstitutionen handschriftlich und getippt subtile Systemkritik in 13 Umschlägen zukommen, in denen Dubcek gefeiert und Ulbricht verdammt wurde. Außerdem verlangte der Unbotmäßige freie Antennen für alle: „Ist der Ostkrimi noch so schön, wir werden immer Westen sehen.“ Stasi-Chef Erich Mielke befiehlt einen schnellen Erfolg. Ganz Magdeburg wird auf den Kopf gestellt, Schreibmaschinen konfisziert, Schriftproben verglichen. Die Stasi tappt im Dunklen. Einer der Briefe trägt ein Brecht-Zitat: „General, du hast Panzer, sie sind stark und herrlich, sie haben nur einen Fehler, sie brauchen jemanden, der sie lenkt!“ Das Dichterwort wird als Hetzparole interpretiert, Marietta Jablonski hat eine Abiturarbeit über Brecht geschrieben und ist verdächtig. Weil Marietta Jablonski querschnittsgelähmt ist, kann sie ihre Taten nur in einer Gruppe verübt haben. Also wird der Mann gleich mitverhaftet. Dann geht alles sehr schnell. Ohne einen einzigen stichhaltigen Beweis schließen sich die Türen des Stasi-Gefängnisses in Magdeburg. Für das Ehepaar beginnt ein Martyrium. Die Stasi-Schergen haben nur ein Ziel: Vernehmen bis zum Geständnis. Tage und Nächte werden sie verhört. Als angedroht wird, den vier Jahre alten Sohn zur Zwangsadoption freizugeben, bricht Marietta Jablonski zusammen: „Das war das Schlimmste. Nach drei, vier Wochen habe ich wider besseres Wissen ein Geständnis abgelegt. Ich konnte nicht mehr. Wenn sie jeden Tag hören, was für ein Verbrecher sie sind, was für ein schlechter, böser Mensch, dann werden sie verrückt.“ Während Marietta Jablonski im Oktober 1971 freikommt, weil sie haftunfähig ist, muss ihr Mann noch bis zum Januar 1972 warten, ehe ihm der Prozess gemacht wird. Das Urteil hat die Stasi schon diktiert: sechs Jahre Haft! Die Bundesrepublik kauft das Ehepaar schließlich frei, im Mai 1974 dürfen sie in den Westen ausreisen. Sie bauen sich ein zweites Leben in Hannover auf, wo sie heute noch wohnen. Das größte Glück. Immerhin. Nach dem Fall der Mauer werden sie rehabilitiert. Für Republikflucht! Der falsche Verdacht, die erfolterte Aussage, das abgepresste Geständnis, das gebeugte Recht – alles nicht zu rehabilitieren. Für die Jablonskis bleibt das ein Frevel. Oberstaatsanwalt Grasemann kennt diese Klagen von vielen Opfern der SED-Justiz: „Wir haben hier ein Rechtsproblem. Rechtsbeugung war auch in der DDR strafbar, allerdings wurde der Paragraf nicht angewendet in den vorliegenden Fällen. Das Unrecht war ja in der DDR Recht. Hinzu kommt das Rückwirkungsverbot. Das heißt, wir können kein Strafgesetz rückwirkend in Kraft setzen. Das ist natürlich bitter.“ Dennoch kommt es nach der Wende zu 62000 Ermittlungsverfahren, auch wegen Rechtsbeugung. Wichtigste Quelle: Akten aus Salzgitter. Für viele eine Chronik, die es nicht zulässt, den Unrechtsstaat DDR nachträglich umzudeuten. Salzgitter-Deal Zwei Saarländer halten zusammen, auch wenn die Menschenrechte dran glauben müssen. Oskar Lafontaine (rechts) gehörte mit seinen Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, Bremen und Hamburg zu den ersten SPD-Ministerpräsidenten, die noch ein Jahr vor dem Mauerfall Erich Honecker den Gefallen taten und sich aus der Finanzierung der siebenköpfigen Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter verabschiedeten. Es ging um 3506 D-Mark! Foto: Picture Alliance

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