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25 Jahre Deutsche Einheit - Es wird Zeit, die Identitätskrise zu überwinden

Kolumne: Grauzone. Deutschland wirkt seit geraumer Zeit orientierungslos bis tief verunsichert. Die politischen Ereignisse haben Spuren hinterlassen und das deutsche Selbstverständnis zerrüttet. Es wird Zeit, die Politikkultur stärker vom eigenen  Staatsinteresse leiten zu lassen  

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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25 Jahre Deutsche Einheit. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Doch seltsam: Partylaune will so recht nicht aufkommen. Die politischen Ereignisse der letzten Monate liegen wie Mehltau auf diesem Land. Sie haben es erschüttert und alte Gewissheiten weggespült. Deutschland befindet sich in einer tiefen Identitätskrise.

Oh nein, werden jetzt viele denken, bitte nicht schon wieder: Deutschland und seine Identitätskrise. Hat es die denn nicht seit zweitausend Jahren? Waren sich nicht schon die Stämme, die Arminius gegen die Römer führte, notorisch uneins? Wurde nicht die deutsche Kleinstaaterei über Jahrhunderte bejammert? Und vor allem: War es wirklich so viel besser, als die Deutschen ihre Identität dröhnend und großspurig in die Welt hinausposaunten?

Nein, das war natürlich nicht besser. Und ja, das Klagelied über die fehlende deutsche Identität ist fester Bestandteil der deutschen Folklore. Spötter würden sagen: Identitätszweifel gehören zur deutschen Identität dazu.

Doch seit geraumer Zeit kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die traditionelle deutsche Identitätskrise einer veritablen Orientierungslosigkeit gewichen ist, einer tieferen Verunsicherung, die über die übliche Zerknirschung weit hinausgeht.

Bestätigung des postnationalen Weltbildes
 

Begonnen hat alles vermutlich um das Jahr 2010. Bis dahin war die deutsche Welt noch weitgehend in Ordnung. Gut, die Lehman-Pleite und ihre Folgen waren etwas beklemmend, und auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten etwas Beunruhigendes. Doch beides war zunächst nicht geeignet, deutsche Selbstgewissheiten in Zweifel zu ziehen.

Im Gegenteil, vielmehr schienen die Ereignisse das postnationale Weltbild des Durchschnittsbundesdeutschen zu bestätigen: Zeigten sie nicht eindrucksvoll, dass Krisen, Konflikte und Bedrohungen aller Art nur im Rahmen internationaler Organisationen zu lösen sind? Und machten sie nicht deutlich, dass die Zukunft Institutionen wie der EU oder der UN gehört?

Doch dann kamen die Griechenlandkrise, die Arabellion, der Ukrainekonflikt und schließlich die Flüchtlingsströme, die der Zerfall Syriens und der Siegeszug des IS auslösten. Mit einem Mal fand sich Deutschland in einer Welt wieder, die im bundesrepublikanischen Weltbild nicht vorgesehen war, einer Welt, in der nicht kooperiert wird, sondern in der unterschiedliche Mächte teils dreist, teils kaltschnäuzig und brutal ihre nationalen Interessen durchzusetzen versuchen – auch innerhalb der EU.

Darauf war man in Deutschland nicht vorbereitet. In keinem anderen Land gehört es so sehr zum Selbstverständnis und zur Staatsräson, nationale Interessen in einem Großen und Ganzen aufgehoben zu sehen. Und das nicht nur außenpolitisch. Auch innenpolitisch gefiel sich Deutschland Jahrzehnte darin, nationale Werte zu leugnen oder sogar lächerlich zu machen – man denke nur an die leidige Leitkulturdebatte.

Das funktionierte solange, wie die Kluft zwischen selbstloser transnationaler Rhetorik und Realität nicht all zu offensichtlich war oder zur Not mit wirtschaftlichen Mitteln kaschiert werden konnte. Doch damit ist es nun vorbei.

Neujustierung des politischen Denkens in Deutschland
 

Und so ist Deutschland, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, in einer Wirklichkeit gelandet, die mit den Koordinaten seines über Jahrzehnte gepflegten Selbstverständnisses nicht in Einklang zu bringen ist. Die alten Politrezepte erweisen sich als wirkungslos und die solange gepflegten Ideale als nicht realitätstauglich. Das Ergebnis ist Ratlosigkeit und eine tiefe Identitätskrise.

Was nun? Hochgradig kontraproduktiv wäre es, einer Re-Nationalisierung deutscher Politik das Wort zu reden. Das hieße nicht nur auf sehr deutsche Art von einem Extrem ins andere zu fallen, sondern vor allem die politischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu gefährden.

Dringend notwendig ist jedoch das pragmatische Eingeständnis, dass es sehr wohl spezifisch deutsche Interessen gibt – nach innen und nach außen. Und die unterscheiden sich gegebenenfalls signifikant von den Interessen anderer Nationen, Völker und Kulturen. Vor dieser banalen Einsicht kann man sich nicht einfach wegducken, indem man eigene Interessen mit denen transnationaler Organisationen oder einer imaginären Weltgemeinschaft gleichsetzt.

Das politische Denken in Deutschland muss sich neu justieren. Es muss sich davon verabschieden, das politische Handeln mit universalmoralischen Aufträgen zu überfrachten und so seine realpolitische Möglichkeit einzuschränken. Ganz nebenbei würde eine stärker vom eigenen Staatsinteresse geleitete Politikkultur Deutschland wieder näher an seine internationalen Partner heranführen – die denken nämlich schon immer so.

So gesehen bietet die aktuelle politische Lage dem wiedervereinigten Deutschland eine schöne Gelegenheit, endlich erwachsen zu werden. Nüchtern, selbstbestimmt und ohne großes Getöse. Der 25. Geburtstag ist dafür nicht der schlechteste Zeitpunkt.

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