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() Theodor Adorno in 1968.
„Aufklärung ist totalitär“

Die 68er-Bewegung hatte ein Lieblingsbuch, die "Dialektik der Aufklärung".

Das Jahr 1968 ist unter anderem das Jahr, in dem es die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in den Buchläden noch nicht zu kaufen gab. Hinzufügen muss man: noch nicht wieder. Die erste Buchausgabe des Werkes, das die Studentenbewegung wie nur wenige andere beschäftigte, war 1947 erschienen. Die war recht lange lieferbar gewesen, aber als die Studenten zwanzig Jahre später begannen, es mit heißen Köpfen zu lesen, hatten sie es nur als Raubdruck erwerben können. Die Frankfurter Schule, deren erlauchte Häupter Adorno und Horkheimer waren, mochte das Buch nicht. Jürgen Habermas bezeichnete es noch 1983 als das „schwärzeste Buch“ der Autoren. Mit ihm hätten diese an die „schwarzen Schriftsteller des Bürgertums“, an Nietzsche und de Sade angeknüpft, um „den Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung auf den Begriff zu bringen“. Genau das faszinierte die Studenten der 68er-Generation. Man hat die Studentenbewegung als eine von Antiquariatsgängern bezeichnet. Richtig ist das, weil viele Studenten, ob sie nun politisch nach links tendierten oder nicht, Bücher, von denen sie sich etwas versprachen, in den Antiquariaten suchten und oft nur dort fanden. Vom Gängigen waren sie enttäuscht. „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“ hieß eines der Kapitel in der „Dialektik der Aufklärung“. Da waren Sätze zu lesen wie: „In der Kulturindustrie verschwindet wie die Kritik der Respekt: jene wird von der mechanischen Expertise, dieser vom vergesslichen Kultus der Prominenz beerbt.“ Die Studentenbewegung, obgleich mit Recht auch als „antiautoritäre Bewegung“ in der Erinnerung, war durchaus für Respekt zu haben. Dazu war sie schließlich in den fünfziger Jahren erzogen worden. Jetzt galt ihr Respekt verfemten Autoren und aufstörenden Büchern. Wohl selten hat eine akademische Generation so energisch auf den Lektürekanon unter Gleichaltrigen geachtet wie die Studierenden der Jahre 1965 bis 1970: Lukacs und Bloch, Marcuse und Mitscherlich, Adorno, Benjamin, Brecht und Frantz Fanon, bald auch der italienische Kommunist Gramsci, dann Wilhelm Reich. Und immer wieder Freud. Sie stapelten sich auf den Bücherständen in den Universitäten, oft als Raubdrucke. Und überall und immer dabei: die „Dialektik der Aufklärung“. „Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will“, war da zu lesen, „gilt der Aufklärung als verdächtig.“ Das war nicht freundlich von der Aufklärung gedacht. Aber dass jählings Berechenbarkeit und Nützlichkeit die Hauptkriterien für das Studium und das Leben an der Universität sein sollten, das hatten sie selber schon mit Unwillen bemerkt. Die Verfechter des zweckorientierten Lernens führten Argumente im Munde, die mit Prinzipien der Aufklärung scheinbar übereinstimmten. Die „Kritische Theorie“, mit der die Frankfurter Schule viele dieser Studenten überzeugte, sprach da von der „instrumentellen Vernunft“, von der sich die „kritische Vernunft“ verheißungsvoll unterscheide. Allerdings war in der „Dialektik der Aufklärung“ die Hoffnung darauf schon fast zum Verschwinden gekommen. „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein“, sagt der Teufel im „Faust“ von der Vernunft des Menschen. Diese Diagnose, obzwar eingeschränkt durch die Person dessen, dem sie in den Mund gelegt wird, entsprach jener Kritik an der Aufklärung, die zumal in Deutschland oft durch den Hinweis auf den Terror der französischen Revolution aktiviert wurde. Die Gedanken der englischen Aufklärung entgingen solcher Gleichsetzung, diese hatten besonders auf Immanuel Kant gewirkt, den bedeutendsten Philosophen der Aufklärung in Deutschland. Aber es war kein Geringerer als Heinrich Heine, der ohne Sentimentalität schrieb: „Unser Robespierre heißt Kant.“ Adorno und Horkheimer dekretierten hundert Jahre später: Jede Aufklärung ist totalitär! Die zivilisierte Welt war inzwischen um die Erfahrung zweier Weltkriege reicher, und der Ausgang des zweiten war noch ungewiss, als die „Philosophischen Fragmente“, wie die Autoren ihre Texte zur „Dialektik der Aufklärung“ nannten, in einem Privatdruck von 500 Exemplaren für Freunde in den USA veröffentlicht wurden. Und als sie 1947 im Amsterdamer Emigrantenverlag Querido als Buch herauskamen, war das ganze Grauen, das durch die Nationalsozialisten in ihrem Herrschaftsgebiet veranstaltet worden war, gerade erst bekannt geworden. Als die Studenten das Buch in den sechziger Jahren lasen, wussten die meisten von ihnen darüber und über die Verbrechen der Stalin-Ära Bescheid, wenn auch nicht seit langem. Auch von daher hatte das nicht mehr lieferbare Buch eine anstoßende Aktualität. Aber die Kritik am Totalitären, und das war hier das besonders Attraktive, war frei von jeder affirmativen Begleitmelodie zum Einverständnis mit der eigenen Gegenwart, die durch den Kalten Krieg bestimmt war. Dafür sorgten die bissigen Passagen über die Kulturindustrie, in deren Wirken die Studenten und die von ihnen favorisierten Lehrer das Verhängnis ihrer Zeit erkannten. Keine Generation, hört man seit Jahrzehnten, hat glücklicher gelebt, sorgenfreier studiert, ist zuversichtlicher ins Berufsleben gestartet als die 68er mit ihrer Trias aus Bach, Beatles und Beach-Volleyball. Aber bei Adorno und Horkheimer hatten sie die Kulturindustrie als Amüsierbetrieb sehen gelernt und diesen als Herrschaftsinstrument. Die „Verfügung über den Konsumenten ist durch Amusement vermittelt; nicht durchs blanke Diktat, sondern durch die dem Prinzip des Amusements einwohnende Feindschaft gegen das, was mehr wäre als es selbst, wird es schließlich aufgelöst.“ Die Studenten, die das lasen, waren zumeist durch einen dichten Hagel von Enttäuschungen gegangen, nachdem sie zuvor in den empfänglichsten Jahren der Kindheit und Jugend mit den höchstgestimmten Erwartungen an das Leben genährt worden waren. In den Jahren nach 1945 waren sie in Kindergarten und Schule einer kirchlichen Erziehung ausgesetzt wie kaum eine andere Generation näherhin vorher oder nachher. Im Elternhaus erlebten sie in den Jahren der Not und des zügigen Wiederaufstiegs eine Familie, deren Zusammenhalt ohne Alternative war. Ihre ersten selbstständigen Leseerfahrungen waren anspruchsvoll. Sartre und Camus, Tennessee Williams und Arthur Miller, aber auch ein deutscher Altphilologe wie Karl Reinhardt („Die Krise des Helden“) erreichten im Taschenbuch exorbitante Auflagen. Solche Hochgestimmtheit wurde seit Beginn der sechziger Jahre düpiert durch heftige Desillusionierungen: Dem prekären Frieden in Europa standen blutige Kolonialkriege in anderen Kontinenten gegenüber, Algerien, Vietnam. Die Kirche musste ihre Vergangenheit im Dritten Reich aufarbeiten (Hochhuths „Stellvertreter“) und wurde unglaubwürdig in moralischen Fragen. Das Aushalten in den Familien wurde schwieriger, die Väter zumal reagierten störrisch auf insistierende Fragen der heranwachsenden Kinder über ihr Tun und Lassen im Krieg und zuvor. Was Schule, Universität und das kulturelle Leben gegeben hatten, wurde plötzlich daran gemessen, was sie vorenthalten hatten. Die Studenten entdeckten einen Teil der deutschen Vergangenheit, von dem sie bis dahin nichts gehört hatten. Nicht wenig von dem, was sie da entdeckten, war kommunistisch inspiriert. Dorthin führte von der „Dialektik der Aufklärung“ kein Weg zurück, es führte von ihr aber auch keiner darauf zu. Das mag die kurze Episode im Schicksal dieses Buches in den ersten wichtigen Jahren der Studentenbewegung bestimmt haben. Die Gründer der Frankfurter Schule wollten, in die junge Bundesrepublik zurückgekehrt, nichts mehr mit dem Kommunismus zu tun haben und suchten nach Wegen, der Hoffnungslosigkeit ihrer die bürgerliche Bildungswelt bezeugenden Analysen zu entkommen. Ihre Nachfolger wollten wenigstens Marxisten sein, sahen ungern die verführerische Nähe der „Philosophischen Fragmente“ zu den Aphorismen Nietzsches. Sie begannen aufs Neue mit dem anachronistischen Versuch, die Welt von Hegel und Marx her zu erklären. Der Erfolg aber, den gerade die „Dialektik der Aufklärung“ bei den Studenten der sechziger Jahre gehabt hatte und der schließlich via Raubdruck die Neuauflage des Buches im renommierten S.Fischer Verlag erzwang – im Verlag Horkheimers, nicht Adornos, also außerhalb der sich entfaltenden Suhrkamp-Kultur –, hatte gerade darin gelegen, dass dieses Buch gleichsam auf der Höhe der Zeit gewesen war sowohl im Zweiten Weltkrieg, als es entstand, als auch im Kalten Krieg, als die Raubdrucke produziert wurden, sowie in der Wahrnehmung des Vietnam-Krieges, gegen den zu protestieren die Studenten in bis dahin nie gekannten Gegensatz zu den Politikern ihres Landes brachte. Die Studenten, die damals die „Dialektik der Aufklärung“ lasen, waren, wenn überhaupt links, dann links aus der Protesthaltung heraus, mit der sie die bürgerliche Welt – die ihnen all die Enttäuschungen bereitet hatte und nun auch zum Vietnamkrieg schwieg – in Aufregung versetzen konnten. Den Analysen dieses Buches wollte sich das Bürgertum nicht entziehen. Hier wurde verhandelt, was für das Bürgertum immer noch – oder schon wieder? – zur Debatte stand. Man hat die Studentenbewegung, ihre Protagonisten, vielleicht die 68er insgesamt auch als die letzte Bewegung bezeichnet, für die im Bildungswesen, zumal an der Universität, in Diskussionen überall die Geisteswissenschaften, die Sozialwissenschaften und ihre Bücher größere Bedeutung haben sollten als die Naturwissenschaften oder die Orientierung der universitären Bildung auf Berechenbarkeit und Nützlichkeit. Wenn das so gewesen sein sollte und die 68er die letzten Vorkämpfer für die klassische Bildung in einer fortschrittsbesessenen Welt waren, dann haben sie diesen Kampf verloren. Die Frankfurter Schule, bald weit entfernt von der Verzweiflung der „Dialektik der Aufklärung“, verschrieb sich dem Ziel, das „Projekt der Moderne“ zu vollenden. Die Umstände luden dazu ein. In einer vornehm aufgemachten Reihe des S.Fischer Verlages mit Erfolgsbüchern aus der Verlagsgeschichte erschienen die „Philosophischen Fragmente“ noch einmal 1986, jetzt fast selbst ein Produkt der Kulturindustrie. Irgendwann, wenn die Zeit der Aktualisierungen und Anachronismen vorbei ist, werden sich die Historiker des Buches annehmen. Dann werden die durchstudierten Exemplare den viel gelesenen Raubdrucken ähnlicher sein als der Jubiläumsausgabe. Jürgen Busche ist Publizist und lebt in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Die 68er – Biografie einer Generation“ (Berlin Verlag) in erweiterter Ausgabe Foto: Picture Alliance

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