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„Lager der Freiheit“ aus blauen Zelten im Triangel der Macht in Sofia / Frank Stier

Bulgariens Regierungschef Borissov - In der Zange des Protests

Die Skandale um Bulgariens Regierungschef Borissov häufen sich. Die Duldsamkeit der Bulgaren gegenüber Korruption und Machtmissbrauch neigt sich dem Ende zu, Demonstranten fordern Neuwahlen. Kann Borissov seine Regierung retten?

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Frank Stier ist Korrespondent für Südosteuropa und lebt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

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Für gewöhnlich gewährt die Adlerbrücke „Orlov Most“ den Zugang zum Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Seit dem vergangenen Mittwoch ist das anders. Zum Zeichen ihres zivilen Ungehorsams haben Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition auf ihr ein Zeltlager errichtet, das den Verkehr blockiert.

Bis die konservativ-nationalistische Koalitionsregierung von Ministerpräsident Boiko Borissov gestürzt und der verhasste Generalstaatsanwalt Ivan Geschev von seinem Amt zurückgetreten ist, soll ihr „Lager der Freiheit” bestehen bleiben.

Ort großer politscher Symbolik

Die Adlerbrücke ist ein Ort großer politscher Symbolik. Anfang der 1990er Jahre war sie Schauplatz riesiger Demonstrationen, die das kommunistische Regime stürzten und der von Krisen und Katastrophen geprägten Periode marktwirtschaftlicher Demokratie ihren Anfang gaben.

Als es im Frühjahr 2013 an der Adlerbrücke bei Stromrevolten gegen hohe Energiepreise zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kam, schmiss Regierungschef Borissov wenige Monate vor Beendigung seiner ersten Amtszeit den Bettel hin. „Ich kann nicht zusehen, wie das Blut bulgarischer Bürger vergossen wird”, begründete er seinen Rücktritt. 

Schockierende Fälle von Polizeigewalt

Nun hat es auch im Verlauf der seit über drei Wochen andauernden Proteste gegen seine Regierung schockierende Fälle von Polizeigewalt gegeben. Doch Borissov harrt aus. Er scheint diesmal entschlossen, seine oft wiederholte Beteuerung zu erfüllen, mit dem dritten Regierungsmandat erstmals eines zu vollenden.

Doch sein Rückhalt in der Bevölkerung schwindet und die Unterstützung für die Protestbewegung wächst. Noch Anfang Juli 2020 erwiesen Meinungsumfragen Boiko Borissov als einen der bulgarischen Politiker mit den höchsten Popularitätswerten, inzwischen ergeben demoskopische Untersuchungen, dass zwei von drei Bulgaren den Protest gegen sein Kabinett unterstützen. 

„Lager der Freiheit“ aus blauen Zelten

Auch im sogenannten Triangel der Macht, wo sich der Ministerrat, das vom Parlament genutzte Haus der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) und das Staatspräsidium gegenüberstehen, hat sich ein „Lager der Freiheit“ aus blauen Zelten ausgebreitet. Es blockiert den für den Sofioter Verkehr wichtigen Boulevard Zar Osvoboditel.

Im großen Gemeinschaftszelt diskutieren Passanten mit den Besetzern. „Erstmal muss die Regierung weg“, sagt ein junger Mann, „alles weitere wird sich ergeben“. „Doch was passiert, wenn sich die Geschichte vom Jahr 2014 wiederholt?“, gibt ein älterer Herr skeptisch zu bedenken. 

Vorgezogene Neuwahlen – warum?

Tatsächlich trug vor sechs Jahren eine massive und ausdauernde Protestbewegung schließlich zum Sturz der sozialistischen Regierung von Plamen Orescharski bei. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen waren aber genau die selben Parteien in der Bulgarischen Volksversammlung vertreten wie zuvor.

Die Aktivisten der Proteste fanden sich in ihr parlamentarisch nicht repräsentiert. Warum aber fordern die Demonstranten heute so hartnäckig vorgezogene Neuwahlen? Es sind doch nur noch acht Monate bis zu den regulären Parlamentswahlen im März 2021. 

„In den Ghettos der Roma werden Stimmen gekauft“

„Es ist uns deshalb so wichtig, dass die Regierung wegkommt, damit nicht sie die nächsten Wahlen vorbereiten und durchführen kann, sondern dies eine Übergangsregierung erledigt“, sagt Todor Stojanov, einer der Besetzer des Freiheitslagers am Boulevard Zar Osvoboditel. Als Wahlhelfer habe er mit eigenen Augen gesehen, wie Wahlprotokolle gefälscht wurden, fügt der studierte Jurist hinzu.

Die von Meinungsforschern veröffentlichten Popularitätswerte Borissov hält Stojanov für gekauft, seine Wahlsiege für gestohlen. „Bei jeder Wahl sehen wir, wie in den Ghettos der Roma Stimmen gekauft werden und wie die Beamten und Angestellte des sich stetig ausweitenden Staatsapparats korporativ zur richtigen Stimmabgabe genötigt werden“. 

Elektronische Stimmabgabe gegen Wahlfälschung

Führe eine Übergangsregierung die Wahlen durch, werde es Borissovs Parteigängern schwieriger fallen, sie zu manipulieren. Ein unabdingbares Mittel zur Vermeidung von Wahlfälschungen sei zudem die Einführung der Möglichkeit zur elektronischen Stimmabgabe. Sie werde auch dazu führen, dass sich mehr gut ausgebildete junge Bulgaren im westlichen Ausland an der Wahl beteiligen. „Sie sind von den dortigen demokratischen Werten geprägt und können zu einer tatsächlichen Veränderung der Herrschaftsverhältnisse beitragen“, hofft Todor Stojanov. 

„Brennt doch lieber meine Regierungsvilla ab, als dass ihr den Bürgern die Straßen blockiert, hat Regierungschef Borissov vor einigen Tagen an die Protestierenden  appelliert. Es sind coole Sprüche wie diese, die ihm über die Jahre hinweg die Sympathie seiner Anhänger gesichert hat.

Abgehörte Telefonate geleakt

In den vergangenen Wochen sind aber mehrere Aufnahmen abgehörter Telefonate geleakt worden, die einen anderen, weniger entspannten Borissov zu erweisen scheinen. In übelstem Kutscherjargon verflucht auf ihnen ein Mann mit Borissovs Stimme und Tonfall Freund und Feind gleichermaßen und brüstet sich damit, autokratisch in Befugnisse formell unabhängiger staatlicher Institutionen einzugreifen. 

„Niemals habe ich mir erlaubt, irgendwen zu beleidigen”, bestritt Borissov die Authentizität der publizierten Aufnahmen. Gegenüber dem investigativen Onlinemedium bivol.bg hat das us-amerikanische Akustiklabor Primeau Forensic indes bestätigt, es habe an der Tonaufnahme, in der Parlamentspräsidentin Tsveta Karajantscheva vulgär herabgewürdigt wird, „keine Manipulationen feststellen können”.

Geldbündel und Goldbarren im Nachttisch

Abzuwarten bleibt, ob dies auch für die vor wenigen Tagen veröffentlichte Telefonaufnahme gilt, in der ein nach Borissov klingender Mann Staatspräsident Rumen Radev als „Blödmann“ tituliert und mit nicht zitierfähigen Obszönitäten bedenkt. bivol.bg will auch herausgefunden haben, dass die geleakten Fotos, die Borissovs Nachttisch voll mit Bündeln von 500 Euroscheinen und kleinen Goldbarren zeigen, nicht mit Photoshop behandelt worden seien.

Der Nachweis, dass der Regierungschef tatsächlich große Summen aus korrupten Geschäften erworbenen Geldes im Nachttisch aufbewahrt, ist damit natürlich nicht erbracht. Von der von Ivan Geschev geführten Staatsanwaltschaft ist erfahrungsgemäß kaum Aufklärung dazu zu erwarten.

Mehrwertsteuer auf Bier gesenkt – reicht das?

Als Maßnahme zur Bewältigung der Corona-Krise hat das Kabinett Borissov die Mehrwertsteuer für das Glas Bier in der Kneipe von 20 Prozent auf 9 Prozent gesenkt. Ob sich der Regierungschef damit sein politisches Überleben sichern kann, ist ungewiss.

Doch unabhängig davon ob die andauernden Proteste nun zu Borissovs Sturz führen werden oder es reguläre Parlamentswahlen im Frühjahr 2021 geben wird, Bulgariens politische Landschaft ist in den Strudel tiefgreifender Veränderungen geraten.

Das Ende der Duldsamkeit

Unübersehbar neigt sich die Duldsamkeit der Bulgaren gegenüber Korruption und Machtmissbrauch ihrem Ende zu, unüberhörbar hallen die Rufe nach wirklicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit duch die Häuserschluchten von Sofia.

„Was sagen eigentlich die Menschen in Deutschland dazu, wenn sie lesen, wie unflätig sich unser Regierungschef Borissov ausdrückt und die Pistole auf seinem Nachttisch sehen und die Geldbündel in seiner Schulbade?”, fragt Todor Stojanov. Tja, was eigentlich?

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Christa Wallau | Sa., 1. August 2020 - 13:38

Das Hauptargument, mit dem man uns Deutschen diese Aufnahme schmackhaft machte, lautete so: Durch den Beitritt zur EU erhalten diese Länder die Chance, sich zu echt demokratischen Staaten zu entwickeln, und die Menschen dort bekommen viel bessere Perspektiven.
13 Jahre ist das jetzt her. Die einzigen, die von den ab 2007 nach Bulgarien fließenden EU-Geldern profitierten, waren Firmen aus der gesamten EU u. weitgehend korrupte bulgarische Politiker, während sich für die Menschen vor Ort kaum etwas verbesserte. Allerdings bot ihnen die Arbeitsfreizügigkeit innerhalb der EU die Möglichkeit, sich für Billiglöhne im Ausland zu verdingen.
Wie man sieht, hat die EU-Führung kaum Druck auf die bulgarischen Regierungen ausgeübt u. die Geldüberweisungen n i c h t an überprüfbare rechtstaatliche Verhältnisse gebunden.
Mich widern die Lippenbekenntnisse der Brüsseler Kommission ("Europäische W e r t e"!)
nur noch an. Es geht um's Geschäft!

21) nur noch an

Detlev Bargatzky | Sa., 1. August 2020 - 17:42

1. Wenn jemand mit Geldgeschenken Stimmen für eine Wahl kauft, dann scheint mir das legal, denn es geht schlicht um Einflussnahme und Wahlgeschenke.
Das kann man verurteilen. Es ist aber allgegenwärtig bei legalen Wahlen. Warum fällt mir da so spontan die Rentenversicherung ein?

2. Mit der Einführung der Wahlen über elektronische Hilfsmittel wie Computer geht jede Kontrolle über die Wahlergebnisse verloren!
Diese "Wahlmaschinen" sind ähnlich leicht zu manipulieren, wie die elektronischen Kassen. Bei denen kann man per Knopfdruck Umsätze verschwinden lassen.