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Ukraine-Krise - Europa ist ein geopolitischer Zwerg

Seit Beginn der Ukraine-Krise gibt sich die EU-Diplomatie aktiver und selbstbewusster denn je. Doch die Realität sieht anders aus. Europa ist mehr denn je von den USA abhängig. Selbst Deutschland ist in die Defensive geraten

Autoreninfo

Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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In Brüssel hat man sich an EU-Gipfel und Diplomaten-Besuche gewöhnt. Doch so viel Auftrieb wie in den vergangenen Wochen hat es selten gegeben. US-Präsident Barack Obama, Chinas starker Mann Xi Jinping, Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon sowie mehr als 60 Staats- und Regierungschefs aus Afrika gaben sich die Klinke in die Hand. Fast könnte man meinen, Brüssel - und nicht Washington - sei die heimliche Hauptstadt der Welt.

Europas Diplomaten strotzen vor Selbstbewusstsein. Bei einem informellen Treffen am Wochenende in Athen legten sie sich gleich mit zwei großen Nachbarn an: Russland und der Türkei. Der EU-Beitrittskandidat Türkei bekam eine scharfe Rüge wegen Internetsperren und anderer Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Dem neuen Gegner Russland drohten die EU-Minister gar mit Wirtschaftssanktionen, wenn er weiter in der Ukraine zündeln sollte.

Selten machten die EU-Diplomaten einen so starken Eindruck wie heute. Und selten spielte Brüssel eine so wichtige Rolle. Im Juni will die EU-Hauptstadt sogar erstmals einen G7-Gipfel ausrichten. Dort soll das weitere Vorgehen des Westens gegenüber Russland abgestimmt werden. Hat sich die Wirtschaftsmacht EU plötzlich zu einem außenpolitischen Riesen entwickelt? Bekommt die viel belächelte „soft power“ am Ende doch noch Biss?

Militärisch existiert die EU nicht einmal


So verlockend es wäre, diese Frage mit Ja zu beantworten: Die Realität sieht anders aus. Man muss es nicht gleich so drastisch ausdrücken wie die stellvertretende US-Außenministerin Nuland, die ihre Wertschätzung für die europäische Diplomatie im berühmt-berüchtigten „Fuck the EU“ zusammenfasste. Auch eine nüchterne Analyse kommt zu einem wenig schmeichelhaften Ergebnis: Die Ukraine-Politik der EU ist krachend gescheitert; die Schaumschläger aus Brüssel verfügen nicht über die nötige „Hard power“.

Geopolitisch ist die EU weiterhin ein Zwerg. Militärisch existiert sie nicht. Wirtschaftlich leidet sie immer noch an den Folgen von Finanz- und Eurokrise. Und der Biss, den sie plötzlich gegenüber Russland und der Türkei zu zeigen scheint, tut in Wahrheit niemandem weh. Die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara gehen trotz allem weiter. Die Sanktionen gegen Russland sind wirkungslos; viel mehr als Symbolpolitik steckt bisher nicht dahinter.

Nach dem Grund muss man nicht lange suchen: Wie im Irakkrieg ist der Club der 28 EU-Staaten auch diesmal in Tauben und Falken gespalten. Zu den Tauben gehört - wie damals - Deutschland mit seinen zahlreichen „Putin-Verstehern“ und Unternehmen, die mit Russland gute Geschäfte machen. Auch Österreich, die Slowakei und Zypern zählen zu diesem Lager. Zu den Falken hat sich diesmal neben Großbritannien und Polen auch Frankreich gesellt.

Russland-Politik: Zögern und Zaudern


Es steht also nicht mehr „altes“ gegen „neues“ Europa, wie die amerikanischen Neocons vor zehn Jahren spotteten. Diesmal verläuft die Trennlinie entlang der Frage, wie lange man noch auf Diplomatie setzen darf - und wann die Zeit für harte Wirtschaftssanktionen gekommen ist. Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier wirken mit ihrer Position, die nächste Eskalationsstufe von einer direkten russischen Intervention in der Ostukraine abhängig zu machen, zunehmend isoliert. Nicht zufällig drohte Merkel beim Europaparteitag der CDU, die Wirtschaftssanktionen könnten schon bald kommen: Sie steht unter Druck.

Doch selbst wenn es zum harten Boykott kommen sollte - für Russland wäre es ein Leichtes, die nur scheinbar geschlossene EU-Front zu durchbrechen. Staaten wie die Slowakei oder Zypern können einen Wirtschaftskrieg mit Russland nur mit Hilfe anderer Staaten überstehen - und ob Deutschland bereit wäre, eine Art Ukraine-Soli zu zahlen, darf man bezweifeln. Zumindest bis zur Europawahl am 25. Mai dürften die Europäer daher weiter zögern und zaudern.

Doch auch dann sind die Reihen nicht fest geschlossen - im Gegenteil. Denn die Brüsseler Führungsriege steht ab Mai endgültig auf Abruf. Kommissionschef Barroso, Ratspräsident Van Rompuy und die Außenbeauftragte Ashton werden nach der Europawahl durch neue, womöglich noch schwächere Figuren abgelöst. Die EU steht ausgerechnet jetzt ohne schlagkräftige Führung da. Sollte es in dieser Lage zu einer neuen Konfrontation mit Russland kommen, könnten die inneren Widersprüche offen ausbrechen; die EU wäre dann außenpolitisch gelähmt, genau wie im Irakkrieg.

Das Hauptproblem ist aber, dass die EU immer noch keine Strategie für Russland und Osteuropa hat. In das Ukraine-Abenteuer stürzten sich die Europäer mit einem fatalen Entweder-Oder - Kiew sollte sich zwischen Moskau und Brüssel entscheiden. Das wurde zwar mittlerweile als Fehler erkannt, der die Lage unnötig eskalieren lies. Bei einem Treffen des so genannten Weimarer Dreiecks haben Außenminister Steinmeier und seine französischen und polnischen Amtskollegen angekündigt, künftig neue Wege zu suchen.

Doch Steinmeier und Co. haben sich - so weit erkennbar - noch nicht auf eine neue, intelligentere Strategie verständigt. Bei der für den EU-Gipfel im Juni geplanten Annäherung an Moldawien und Georgien droht daher ein neues Debakel. Auch die Assoziierungsabkommen mit diesen beiden Staaten könnte Russland als Provokation empfinden - und entsprechend reagieren, fürchten EU-Diplomaten. Statt auf Entspannung stehen die Zeichen weiter auf Sturm.

Und wie sollte es überhaupt zu einer Entspannung kommen? Was müsste passieren, damit Europäer und Amerikaner ihre Sanktionen zurücknehmen? Auch darauf gibt es bisher keine Antwort. Denn die EU hat zwar ein Eskalationsszenario entworfen (mit den Wirtschaftssanktionen), jedoch keine Exit-Strategie. Sie verstößt damit gegen einen zentralen Grundsatz rationaler Außenpolitik: Man soll sich nie in eine Lage begeben, von der man nicht weiß, wie man wieder herauskommt. Die EU sitzt, brutal gesagt, in der Falle.

„Der wahre Test für die Außenpolitik ist, wie ein Konflikt endet - und nicht, wie er beginnt“, warnte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger schon zu Beginn der Ukraine-Krise. Diesen Test hat die EU nicht bestanden. Schlimmer noch: Sie hat heute weniger Optionen als in vergangenen Konflikten.

Eine starke, eigenständige EU-Außenpolitik? Nichts da.


Im Irak-Krieg konnte sie noch neutral bleiben, da sie sich nicht auf die Seite der USA geschlagen hatte und mit der Mehrheit der Kriegsgegner in der Uno im Gespräch blieb. Selbst im Georgien-Krieg konnte sie noch mäßigend wirken und zwischen Russland und Georgien vermitteln. Diesmal hingegen ist sie von den USA und indirekt auch von Russland abhängig - gefangen zwischen zwei Mächten, die sich zunehmend feindselig gegenüber stehen.

Nach außen hin überlassen die USA zwar der EU die Führungsrolle in der Ukraine. US-Präsident Obama konzentriert sich in seiner Außenpolitik auf Asien; er hat offenbar keine Lust, direkt in Osteuropa zu intervenieren. Doch hinter den Kulissen geben die Amerikaner die Richtung vor. Sie haben nicht nur den ukrainischen Interims-Premier Jazenjuk ausgesucht und den Kurs bei den Russland-Sanktionen vorgegeben. Auch bei der Frage, wie es in der Ukraine weiter gehen soll, geben die USA den Ton an.

Mögliche Kompromisse werden direkt zwischen US-Außenminister Kerry und seinem russischen Amtskollegen Lawrow diskutiert - über die Köpfe der Ukrainer hinweg und ohne europäische Beteiligung. Für eine starke, eigenständige EU-Außenpolitik spricht dies nicht, im Gegenteil. In Wahrheit ist die EU heute abhängiger von den USA denn je. Sogar in der Wirtschaftspolitik hat sie sich - Stichwort Freihandelsabkommen TTIP - in die Arme der Amerikaner geworfen, statt ein multilaterales Abkommen zu suchen.

Während des Irakkriegs träumten die Europäer noch von einer multipolaren Welt, in der sie zum eigenständigen weltpolitischen Akteur neben den USA, Russland oder China aufsteigen könnten. Davon ist heute keine Rede mehr. In der neuen bipolaren Konfrontation zwischen den USA und Russland spielen die Europäer nur eine Nebenrolle - auch wenn es in Brüssel manchmal ganz anders aussieht.

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