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(flickr Nathaniel Bennett) Der Würgegriff des heterosexuellen weißen Mannes ist auch in der US-Literatur vorbei

US-Literatur - Der weiße Hetero-Schriftsteller hat ausgedient

Starautor Michael Cunningham erklärt, weshalb die amerikanische Literatur sich in den letzten zehn Jahren so massiv verändert hat. Der weiße Hetero-Schriftsteller hat ausgedient

Auf die Gefahr hin, sentimental oder optimistisch zu klingen, bin ich überzeugt, dass die gegenwärtige Generation amerikanischer Schriftsteller eine bemerkenswerte und weitreichende Arbeit leistet. Viele dieser jungen Leute sind gut. Einige sind sehr, sehr gut.

Wenn zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Ort, vermehrt Talente auftreten, hat das immer einen Hauch von Rätselhaftigkeit. Generell neige ich zu dem Glauben, dass die Außerirdischen, die von ihrem fernen Planeten aus die Erdlinge steuern, aus für uns unerfindlichen Gründen beschlossen haben, den Talentstrahl mal hierhin und mal dorthin zu lenken. Diese Erklärung reicht mir völlig aus. Ich mag Rätselhaftes.

Jedoch: Fraglos sind hier zudem auch ein paar Fakten mit im Spiel. Während der letzten zehn Jahre ist in Amerika etwas vor sich gegangen, das ich nur als literarische Schleusenöffnung bezeichnen kann. Es ist noch nicht lange her, da setzten sich die meisten Listen der «seriösen» amerikanischen Autoren nahezu gänzlich aus weißen heterosexuellen Männer zusammen. Ich habe nichts gegen weiße heterosexuelle männliche Autoren. Weiße Heteros haben im Verlauf der Geschichte auf dem Feld der Druck-Erzeugnisse ziemlich passable Arbeit geleistet.

Dennoch haben alle Autoren, vom heterosexuellen weißen Mann bis hin zum 23-jährigen schwarzen Mädchen, die für sie sichtbare Welt gesehen, und die Welt, die sich dem Mann bietet, sieht reichlich anders aus als die Welt, die sich dem schwarzen Mädchen bietet. Übrigens auch anders als die Welt, die sich einem schwulen Mann oder einer Lesbe bietet. Bei der in der literarischen Welt Amerikas entschieden übersteigerten Vorstellung davon, was ein «seriöser» Autor ist und was nicht, geht es im Kern nicht um Fairness oder um die Umverteilung von Wohlstand. Vielmehr geht es darum, einen nationalen Literaturkorpus hervorzubringen, der ein größeres, vielfältigeres Bild des Lebens in Amerika vermittelt. Das Leben in Amerika hat sehr viel mit Ethnie und Gesellschaftsschicht zu tun sowie mit der Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen.

Mit dieser jüngsten Anerkennung eines breiteren Spektrums von Autoren, mit denen zu rechnen ist, geht die Aufregung über das Neue einher. Eine beträchtliche Kraft liegt in der Erkenntnis, dass man zu den ersten Autoren zählt, die ernst genommen werden könnten, obwohl man nicht hetero, weiß und männlich ist; dass man jenseits der Welt der «Spartenliteratur» Karriere machen und eine Leserschaft ansprechen könnte, die nicht genauso ist wie man selber. Junge amerikanische Autoren gehören außerdem zur ersten Generation, die aufgewachsen ist in dem, was ich als Ära des Creative Writing-Diploms bezeichnen möchte. Soweit ich weiß, bietet kein anderes Land für das Prosaschreiben eine solche Fülle an «Master of Fine Arts»-Studiengängen an wie die USA. Heutzutage kommt es selten vor, dass man einem erfolgreichen amerikanischen Autor ohne MFA in Kreativem Schreiben begegnet.

Auf der folgenden Seite: Kann man kreatives Schreiben lernen?

Über Kreatives Schreiben als Studiengang kann man sich natürlich streiten. Es gibt solche, die ihn für überflüssig, gar dekadent halten – ist Schreiben denn überhaupt lehrbar? Große Autoren von Gogol bis F. Scott Fitzgerald scheinen bestens zurechtgekommen zu sein, ohne jemals einen einzigen Kurs in Kreativem Schreiben absolviert zu haben. Ich selbst unterrichte Kreatives Schreiben und bin mir, ehrlich gesagt, nicht immer so sicher, was ein junger Autor von einem Professor lernen kann. Ich weiß allerdings mit Sicherheit, dass kein Professor einem unbegabten Studenten Talent einhauchen kann. Was aber oft übersehen wird, ist die Gemeinschaft der Autoren, die ein MFA-Studium hervorbringt. 

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Amerika mag nicht gerade ganz oben auf der Liste der westlichen Nationen stehen, die ihren Schriftstellern generell größere Aufmerksamkeit schenken, und erst recht den angehenden, noch unpublizierten. Hinzu kommt, dass Amerikaner generell Erfolg (vorzugsweise in Form von Einkünften) lieber sehen als noblen Ehrgeiz. Für viele Amerikaner lautet die implizite Frage: «Wenn du gut bist, warum bist du dann nicht reich?» Wenn ein junger amerikanischer Autor (oder auch ein nicht ganz so junger amerikanischer Autor) erwähnt, dass er oder sie Schriftsteller sei, wird die erste Frage unweigerlich heißen: «Was haben Sie veröffentlicht?» Wenn die Antwort lautet: «Ein paar Erzählungen in einer namenlosen Literaturzeitschrift», wird die neue Bekanntschaft aller Wahrscheinlichkeit nach höflich nicken und das Thema wechseln. Lautet die Antwort dagegen: «Naja, noch nichts», dann wird die Bekanntschaft wahrscheinlich unter irgendeinem Vorwand die Beine in die Hand nehmen. Beim MFA-Studium dagegen verbringen talentierte junge Autoren zwei Jahre in einer Miniaturwelt, in der man sich für literarische Ambitionen brennend interessiert; in einer Welt, in der das Schaffen eines schönen und anrührenden Absatzes als eine der rühmlicheren menschlichen Errungenschaften gilt. 

Der wichtigste Punkt aber ist vielleicht, dass die MFA-Studenten einander haben. Gerade noch befindet sich der fragliche junge Student in, sagen wir, Dallas oder Boise inmitten von Menschen, die nicht nur keine Romane schreiben, sondern vielleicht sogar noch nie einen gelesen haben. Und schon im nächsten Moment sitzt der angehende Autor nicht nur in Schreibseminaren, sondern nach dem Seminar in Bars oder Cafés, um mit anderen jungen Autoren über Literatur zu diskutieren, was in Dallas oder Boise ansonsten schwierig wäre. 

Darin liegt für mich der entscheidende Aspekt eines Creative Writing-Studiums. Ja, es gibt handwerkliche Elemente und darunter solche, die tatsächlich gelehrt werden können. Doch verlieren sie an Wichtigkeit angesichts dessen, was ich für den wahren Zweck des Studiums halte – die Herausbildung einer kleinen Gemeinschaft von Autoren, die sich gegenseitig herausfordern und anregen, die einander anspornen und ermutigen, die in sich selbst und in einander die Überzeugung wecken, dass das Schreiben kein obskures Hobby, sondern eine wichtige, notwendige, ja, heroische Tat darstellt. Wenn die Ergebnisse irgendeinen Hinweis liefern – die Anerkennung solch unterschiedlicher Autoren wie Edwidge Danticat, China ­Miéville, Sarah Shun-lien Bynum, ZZ Packer, Julie Otsuka, ­Salvatore ­Scibona und Yiyun Li, um nur einige zu nennen –, dann scheint es doch wohl so zu sein, dass dieses spezielle System tatsächlich funktioniert.

Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz

Michael Cunningham, 1952 in Cincinnati/Ohio geboren, ist Roman- und Drehbuchautor. Sein Roman «The Hours», mit dem er den Pulitzer-Preis gewann, wurde in 22 Sprachen übersetzt und mit Meryl Streep, Nicole Kidman und Julianne Moore verfilmt. Michael Cunningham lebt in New York und ist Professor für Creative Writing am Brooklyn College. Zuletzt erschien sein Roman «In die Nacht hinein»

 

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