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(picture alliance) Das gute alte Buch - ein Relikt vergangener Tage?

Lesekultur - Das Ende des Buches und was wir verlieren

Bibliotheken wirken wie aus der Zeit gefallen. Und auch die Idee von Autor- und Urheberschaft steht zur Disposition. Warum der Verlust unserer Lesekultur verheerender ist, als wir denken

Der Altphilologe zuckt entschuldigend mit den Achseln. Ich halte noch immer seine Geschichte der antiken Texte in der Hand, die er mir in seinem Büro gegeben hat, 700 Seiten mit Listen von Editorennamen und Fundorten, Verlagen, Autoren und Titeln, bibliografischen Kürzeln und Jahreszahlen. Über zehn Jahre hat Manfred Landfester an dem Band gearbeitet, Teil einer Neuausgabe der 84-bändigen „Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“, die der Stuttgarter Gymnasiallehrer August Friedrich Pauly 1837 begann. Der Neue Pauly enthält auf 12 000 Seiten unter 30 000 Stichworten, verfasst von über 2000 wissenschaftlichen Beiträgern aus 50 Ländern, unser Wissen über die Antike. 19 Bände, von dem Typografen Hans Peter Willberg aus der Bembo auf holz- und säurefreiem, geglättetem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier gesetzt, in stabiles Bibliotheksleinen geschlagen und fadengeheftet, mit einem schönen Vorsatzpapier versehen und einer zweifarbigen Prägung auf dem Rücken.

„Das ist rein äußerlich ja ein etwas trockenes Werk“, sagt Professor Landfester und setzt mit einem etwas schüchternen Lächeln hinzu: „Aber im Grunde genommen ist es die Auflistung unseres ganzen kulturellen Gedächtnisses.“

Eine solche Edition wird es nie mehr geben, schon bei Erscheinen war sie anachronistisch. Brill, der Verlag der englischsprachigen Ausgabe, bietet längst den Zugang zur elektronischen Version im Abonnement. Und, höre ich die Verfechter der Netzkultur fragen, was ändert sich dadurch? Alles. Der Verweis auf die unendlichen Speicher der digitalen Welt, in denen nichts verloren geht, verkennt die spezifische Verschränkung von Medium und Gehalt, die unsere literarische Kultur ausgezeichnet hat, seit 1816 von Friedrich Christoph Perthes „Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur“ erschien.

Perthes, der 1796 in Hamburg die erste Sortimentsbuchhandlung in Deutschland eröffnete, gehörte zu den Gründern des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, und die Entwicklung, die mit ihm einsetzte, gibt seiner Überzeugung recht, Literatur entstehe immer in Wechselwirkung mit der Kultur ihrer Verbreitung. So, wie etwa der Roman als Form seinen Siegeszug nur deshalb und erst dann antreten konnte, als er sich für eine literarisierte Öffentlichkeit als das ideale Packmaß von Fiktionen erwies. Mit der Gründung der modernen Universitäten, mit den Zeitungen und ihren Feuilletons, den Verlagen, Buchhandlungen und Lesezirkeln fand diese Kultur die Gestalt, die wir kennen, eine gesellschaftliche Formation der Lesenden, zu deren grundlegenden Gesetzen die Unterscheidung von Text und Kommentar gehört, diejenige zwischen Autor und Werk, die Anerkennung und Honorierung von Urheberschaft, die Unverletzlichkeit des Textes. Das Ausmaß des medialen Bruchs, den wir erleben, zeigt sich daran, dass all diese Regeln heute zur Disposition stehen.

Ein schleichender Prozess der Auszehrung ist im Gang, man spürt sein Fortschreiten überall, in den Buchhandlungen, den Universitäten, den Rundfunkanstalten, den Literaturhäusern und Schulen: überall die potemkinsche Empfindung, durch bloße Fassaden zu gehen. Zwar gibt es all diese Institutionen noch, aber es kommt mir so vor, als wären sie dabei, von innen heraus zu vergehen. Die literaturwissenschaftlichen Seminare, in die ich eingeladen werde, muten ihren Studenten keine Bücher mehr zu, sondern kopieren zehnseitige Ausschnitte, anhand derer nicht etwa Romane verstanden, sondern lediglich Frage- und Diskussionstechniken eingeübt werden sollen. Kunststücke. Immer mehr Traditionsbuchhandlungen, die seit Jahrzehnten Lesungen veranstalten, mutieren zu Papeterien. In den Rundfunksendern trifft man auf Redakteure, die das Buch, über das sie mit einem sprechen wollen, nicht mehr gelesen haben dürfen, damit sie die Hörer besser abholen können, wie man das nennt.

Es ist, als fahre man von einer Geisterstadt zur nächsten, und überall trifft man auf Menschen, die in ihrer Begeisterung für die Literatur alt geworden sind und wissen, dass das, was sie tun, mit ihnen enden wird. Der literarische Raum zerfällt, er verliert seine Gravitation, alle Kräfte streben hinaus.

Wie sehr das literarische Kunstwerk selbst im Kern von diesem Prozess der Auszehrung betroffen wird, ja dass man sich dieses Kunstwerk überhaupt nicht unabhängig von dem Gedächtnisraum der literarischen Öffentlichkeit vorstellen darf, in den hinein es entsteht, zeigt sich an den eklatanten Veränderungen der Weise, wie Bücher gelesen werden. Auffällig an den Leserrezensionen des Onlinebuchhandels, die zunehmend die literarische Kritik ablösen, ist, dass jedes Buch rezipiert wird, als wäre es das erste, das man liest. Intertextuelle Bezüge, Anspielungen, Traditionen werden nicht mehr erkannt, eine gelungene Lektüre ist vor allem eine, bei der keine Verunsicherung der eigenen Kompetenz die Leseerfahrung stört. Der Boom von Festivals und Literaturevents bestätigt paradoxerweise nur dieses Absterben der Literarizität, denn der Untergang der literarischen Öffentlichkeit und Bildung erzwingt geradezu das eintauchende, unbedingte Leseerlebnis der Jugend, bei dem das Buch die reale Welt zu ersetzen imstande ist. Danach bleibt nur, es ebenso wie den musikalischen Hit, dem man eine Weile verfällt und dessen man doch zwangsläufig überdrüssig wird, in einer Liste abzuspeichern.

Seite 2: Irgendwann wird das Alte zum Ballast

Wird unter diesen Voraussetzungen etwas bleiben von dem, was mir kostbar an Literatur ist? Von jenem Zwielicht der Erwartung und des Wissens, das um die Bücher glimmt und sie mit all den anderen Lektüren irrlichternd auflädt? Ich glaube: Nichts bleibt. Die Hoffnung, wir könnten uns in der Zeitkapsel unserer Romane und Filme, unserer Bilder und Lieder in die Zukunft retten, ist naiv. Zeiten grundlegender medialer Brüche, wie wir gerade einen erleben, zeichnen sich dadurch aus, dass den Menschen plötzlich all das, was ihnen eben noch kostbar war, zum Ballast wird, mit dem sie im besten Fall lediglich Pietät noch verbindet.

Ein solcher medialer Bruch geschieht nicht zum ersten Mal in unserer Geschichte. In den Breviarien des vierten, fünften Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, die hilflos versuchten, das schwindende Wissen Roms in Kompilationen zusammenzufassen, als die Fähigkeiten der Autoren zu erlahmen begannen, kann man nachlesen, was das bedeutet. Als sei etwas dabei zu verwelken, spürt man in diesen Texten das Nachlassen des Stils, die fehlende Kraft zur Durchführung, die Unfähigkeit, ein Thema zu gestalten. Wie von einer Krankheit befallen, werden die Sätze immer einfacher, die rhetorischen Figuren nicht mehr beherrscht, die Metaphern stupide. An die Stelle des zerfallenden Wissens zuvor sorgfältig tradierter Quellen tritt nach und nach hilfloses Hörensagen. Diese Hilf- und Sprachlosigkeit, die sich schließlich im mühsamen Aufrechterhalten der Form erschöpft, ist unendlich traurig. Wir leben in einer solchen Epoche. Mit dem Verschwinden des Nährbodens, auf dem die Werke siedeln, verdorren auch sie.

Ich schaue mich um in Raum 79 des Philosophikums I der Universität Gießen, sehe diesen Fußboden, die Lampen, die leeren Regale und Resopaltische und diesen Schrank darin, der aus einer anderen Zeit stammt. Auch seine handwerkliche Schönheit ist die Schönheit einer einmal gelebten Realität des Wissens. Endlich öffnet Professor Landfester ihn. An den Innenseiten der Türen, mit Reißzwecken befestigt, eine vergilbte schreibmaschinengeschriebene Inventarliste und der Stahlstich des Fabrikanten Kalbfleisch, des privaten Sammlers, der seine berühmte Sammlung ägyptischer Papyrii zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts der Universität vermachte. Die kostbaren Stücke stehen in schmalen Fächern wie in einem alten Schallplattenschrank, jeweils zwischen zwei Glasscheiben gepresst.

„Warum kennen wir eigentlich das, was wir aus der Antike kennen?“, frage ich. „Es ist das, was übrig geblieben ist“, sagt Landfester. „Zunächst ging all das verloren, was keine Aufnahme in die alexandrinische Bibliothek fand. Dann gab es den verheerenden Brand. Und schließlich einen entscheidenden Bruch der Überlieferung zwischen 600 und 800. Die sogenannten dunklen Jahrhunderte. In dieser Zeit ist die antike Literatur weitgehend verloren gegangen.“ „Wie kann man sich das vorstellen? Was geschah da?“ „Ganz banal: Die Menschen haben die Texte nicht mehr abgeschrieben. Und die Bücher sind dann einfach verrottet, nicht wahr? Das waren heidnische Bücher, also bestand kein Interesse. Das ist ja das Besondere an Karl dem Großen, dass er meinte, das Lateinische sei für seinen modernen Staat und die Bildung notwendig. Er hat alles suchen lassen an Literatur, was in Klöstern noch da war. Und die Literatur, die man da um 800 nach Christus fand, die ist uns heute weitgehend erhalten. Von da an gab es einen kontinuierlichen Prozess der Tradierung. Im Westen über Karl, in Byzanz etwa über Photios, den großen Patriarchen. Alles aber, was damals im Westen nicht in die neue Schrift, in die karolingische Minuskel, übernommen wurde, gibt es nicht mehr. Und das Gleiche geschah fast zur selben Zeit im griechischen Bereich: Was in Byzanz nicht gesucht und gesammelt wurde, war dauerhaft verloren.“

Wie sich das angefühlt haben muss, dieses Verschwinden? Ist uns diese Empfindung nicht längst vertraut? Zivilisatorischer Headcrash. Schweigen auf allen Kanälen. Pausenbild. Die kulturelle Nulllinie. Nur hier und da flackert noch etwas in der Dunkelheit auf, wohl immer, bis zum Ende, hoffnungsspendendes Zeichen, es lasse sich doch zurückgewinnen, was längst verloren ist.

„Wir kennen Schulen aus Bordeaux etwa, wo im sechsten Jahrhundert noch Griechisch unterrichtet wurde. Das ist ganz außergewöhnlich. Es ist schon erstaunlich, wie lange das antike Bildungssystem sich auch im politischen Zusammenbruch noch gehalten hat.“ „Hat man eine Vorstellung davon, was alles verloren gegangen ist?“ „Man kann rechnen. Wir wissen für Athen, dass zwischen 500 und 100 vor Christus ungefähr 1500 Komödien aufgeführt worden sind. Und davon sind elf vollständig erhalten, von Aristophanes, und fünf weitgehend, von Menander, nicht?“ „Kann man sagen, dass die erhaltenen die besten sind? Oder ist die Überlieferung zufällig?“ „Nicht ganz. Menander etwa ist, obwohl er der große Klassiker war, nicht ins Mittelalter gekommen, der ist am Ende der Antike verloren gegangen. Aber durch Papyrusfunde in Ägypten, also durch Reste nichtverrotteter Bücher aus Müllhaufen und Ruinen, die teilweise vollständig waren, ist er überliefert worden. Aristophanes, einer der größten Komödiendichter, ist nicht wegen seiner Komik erhalten, sondern weil er gutes Attisch schrieb. Und das war vom zweiten Jahrhundert nach Christus an Kult. Man musste so schreiben, es entstanden Lexika, und darüber wurde Aristophanes in Byzanz weitergegeben.“

„Gibt es eigentlich antike Originalausgaben?“ „Nein, das haben wir nicht. Wir versuchen, aus den verschiedenen Handschriften, die ja meist erst aus dem achten und neunten Jahrhundert stammen, zusammenzusetzen, was der Autor geschrieben haben könnte.“ „Es gibt keinen einzigen Autografen?“ „Nein, nein, ich glaube nicht.“

Seite 3: „Doch was ist es, was da zirkulierte? Was ist das Buch?“

Die Problematik des Umkopierens sei eben nicht neu, sagt Professor Landfester weiter. Bedenklich sei aber das zunehmende Tempo in den digitalen Medien. Schnelle Generationswechsel, das wisse man ja aus der Biologie, produzieren genetische Fehler. „Das führt zum Verlust. Und zwar zum endgültigen Verlust. Und leichter als früher bei den Papyrii. Heute ist dann einfach nichts mehr da. Aber vielleicht haben wir auch zu viel, nicht? Eine gewisse Selektion ergibt sich immer daraus, dass tatsächlich nicht alles in das neue Medium überführt wird. Das ist wie bei der Umschrift damals in die Minuskel. Das ist nur viel schlimmer heute, da es keine zweite Chance des Wiederentdeckens mehr geben wird. Damals verrotteten die Schriftrollen dann eben, und das dauerte. Jetzt aber geht es ganz schnell.“

Aber was ist es eigentlich, das uns heute verloren geht? Gewiss jene beschriebene literarische Kultur, in der das Buch auf eine komplexe Weise zirkulierte. Doch was ist es, was da zirkulierte? Was ist das Buch?

Jacques Derrida betont in einem Vortrag in der Bibliothèque nationale de France bereits 1997, die Frage des Buches habe nichts mit der Frage der Schrift, der Schreibweise oder der Einschreibungstechniken zu tun, denn Bücher würden nach völlig heterogenen Schriftsystemen verfasst. Das Buch ist nicht an eine Schrift gebunden. Die Frage des Buches fällt auch nicht mit der Frage der Druck- und Reproduktionstechniken deckungsgleich in eins: Es gab zum Beispiel Bücher vor und nach der Erfindung des Druckes. Die Frage des Buches ist genauso wenig die Frage des Werkes. Nicht jedes Buch ist ein Werk. Viele Werke hingegen, selbst literarische oder philosophische Werke, Werke eines geschriebenen Diskurses, sind nicht notwendigerweise Bücher. Schließlich fällt die Frage des Buches auch nicht mit der Frage des Trägers in eins. Auf strikt buchstäbliche Weise kann man von Büchern sprechen, die von den verschiedensten Trägern getragen werden: nicht nur von den klassischen Trägern, sondern auch von der Quasi-Immaterialität oder Virtualität elektronischer oder telematischer Operationen.

Was aber bleibt dann? Was ist es, von dem unsere Empfindung uns so deutlich sagt, dass es im Medienwechsel, den wir erleben, unwiederbringlich verloren gehen wird? Nachdem Derrida alles ausgeschieden hat, was jenes Ding, das wir Buch nennen, mit sich führt, ohne dass es seinen Kern berührte, und was in diesem Wechsel mühelos übersetzt werden wird, bleibt für ihn als wesentliche Kennzeichnung des Buches eine dialektische Spannung zwischen Sammlung und Zerstreuung. Nichts anderes.

Das Buch ist flüchtige Zerstreuung, zitiert er Maurice Blanchots Aufsatz „Das kommende Buch“, denn es enthält, was es nicht umfassen kann, es ist zugleich größer und kleiner als das, was es ist. Es ist eine Weise, die Endlichkeit der eigenen Form mit der Unendlichkeit seines Inhalts zu verknüpfen.

Dabei handelt es sich indes nur um eines von zwei Modellen des Buches, es gibt noch ein zweites, das eine nennt Derrida das neohegelianische Modell des großen totalen Buches, das andere das ontologisch-enzyklopädische. Der Medienwechsel, den wir erleben, ist nichts als die Weise, wie jenes gegen dieses ausgespielt wird. Nicht das Buch selbst verschwindet, sondern die Idee, dass der Text von einem Anfang und einem Ende begrenzt wird, einer Totalität also, von der man annimmt, dass sie von einem Autor, einem einzigen identifizierbaren Autor konzipiert und produziert, ja signiert und der respektvollen Lektüre eines Lesers vorgelegt wird, der das Werk nicht antastet. Ihren Grund hat diese respektvolle Lektüre in der Erfahrung, dass das begrenzte Werk, begrenzt wie das Leben des Lesers, das Wunder erlebbar macht, einen unendlichen Inhalt zu evozieren.

Der damit konkurrierende Entwurf des Buches ist die Enzyklopädie, in der alles seinen Raum hat und die für Derrida in der Tradition der christlichen Metapher vom Buch der Welt steht. Das Netz hat die Sehnsucht einer totalen Repräsentanz wiederbelebt und aktualisiert sie permanent in der Aufforderung, einzutreten in einen Raum des Schreibens und Lesens der elektronischen Schrift, die mit vollem Tempo von einem Punkt der Welt zu einem anderen reist und über die Grenzen und Rechte hinweg nicht nur die Weltbürger, sondern jeden Leser als möglichen oder virtuellen Schriftsteller mit dem universellen Netz einer potenziellen „Universitas“ einer mobilen und transparenten Enzyklopädie verbindet. Es beruht dieser Raum der elektronischen Schrift auf dem zutiefst religiösen Versprechen, alle Alterität werde verschwinden, wie auch die gesamte Geschichte der Einschreibungs- und Archivierungstechniken, die ganze Geschichte der Träger und der Weisen des Druckes davon bestimmt ist, dass jede neue Etappe unweigerlich von einer sakralen oder religiösen Reinvestition begleitet wird. Eine solche religiöse Reinvestition erleben wir. Oder, anders gesagt: einen Kreuzzug.

Seite 4: Es bleibt das Weiterwischen auf dem iPad

Schon 1999, als ich mit „Null“ eine der ersten literarischen Anthologien im Netz publizierte, deren Texte sich die Redakteure der Feuilletons damals zumeist noch von ihren Sekretärinnen ausdrucken lassen mussten, weil sie noch nicht online waren, erhoffte man sich unendlich viel von einer solchen digital-enzyklopädischen Literatur. Aber ich wüsste keinen Hypertext im Netz, keinen Blog, keinen Tweet, dessen literarische Halbwertszeit seitdem länger gewesen wäre als das Staunen über die jeweilig neuen medialen Möglichkeiten, die er nutzt. Denn Literatur ist in ihrem Kern nicht enzyklopädisch, eben weil sie das Unendliche im Blick hat, das in der Endlichkeit ihrer Werke erscheint. Ihre Chiffre für eine Weltabbildung, die im Anspruch auf Totalität natürlich mit der Enzyklopädie konkurriert, ja sich sogar immer sicher war, nicht der falschen Unendlichkeit der Addition zu verfallen, ist die Geschichte. Die Geschichte, verstanden als Erzählung, bildet in der Literatur auf eine Weise, die mit jener Dialektik von Sammlung und Zerstreuung zu tun hat, von der Derrida spricht, sich scheinbar deckungsgleich ab auf jener anderen Geschichte, die alle Zeit des Menschlichen meint, alle Zeit überhaupt.

Verloren geht, wie es mir scheint, die Fähigkeit zu dieser Erfahrung. Denn sie ist im höchsten Maße auf eine ganz bestimmte Lektürepraxis angewiesen, in der die Autonomie und Totalität des Werkes ihre notwendige Entsprechung in der Einsamkeit und Abgeschlossenheit des Lesers finden. Solche Lektüre stiftet einen Ort und ist auf einen spezifischen Ort angewiesen, dazu gehören Leser und Buch auf eine unbedingte, von der Welt losgelöste Weise. Es gibt mich und den Text. Das Zuklappen des Buches ist Scheitern und lässt Stille zurück. Das Gespräch kann nur geführt oder verweigert werden. Wird es geführt, ist die Zeit angehalten und suspendiert jede Ökonomie von Down- und Uploads. Die Begegnung, die das Buch ermöglicht, ist ernst. Diese Unbedingtheit ist die erste Wahrheit der Literatur. Ihre Sätze sind nichts, sind nur Papier, oder eben Orte einer solchen Anerkennung, an denen ein Pakt geschlossen wird.

Ich weiß beim Weiterwischen eines Textes auf dem iPad: Das ist fraglos ein Text. Aber ich weiß auch, dass dieser Text zu einem anderen Reich gehört als dem beschriebenen. Es ist naiv zu meinen, neue Ausgabegeräte träten nun einfach an die Stelle dessen, was ein Buch ist. So unklar es noch sein mag, auf welchem Gerät bald die Buchstaben erscheinen werden, so klar ist, dass dieses Medium Inhalte und Formen verändern wird nach der Weise, in der sich bereits unsere Apperzeptionsfähigkeit verändert.

Es steht kaum zu erwarten, dass, wie es ein optimistisches Vorurteil will, weiterhin eine nennenswerte Anzahl von Menschen Bücher auf die beschriebene Weise lesen wird, die für mich stets ein Akt der Wandlung, ja der Gnade ist.

Die Fähigkeit dazu schwindet in dem Maß, in dem die Wirklichkeit der mobilen und transparenten Enzyklopädie uns einhüllt. Die Dialektik, die den Prothesengott Mensch so mit seinen technischen Ausstülpungen verbindet, dass sie immer auf ihn zurückwirken, macht es schon heute für viele Menschen immer schwerer, sich auf einen längeren, abgeschlossenen – und das heißt hier: nicht mit dem Netz verbundenen – Text zu konzentrieren, ja selbst, sich in einem Buch zu verlieren. Man schweift in Gedanken ab. Man vermisst den Hyperlink zu Bildern, Tönen, anderen Texten. Den Kommentar zu dem, was man gerade liest. Was wiederum der Revolution der Formate entgegenkommt.

Das Buch wird sich im digitalen Raum auflösen. Habent sua fata libelli – das Buch teilt das Schicksal seiner Besitzer. Wenn die Literatur der freie Traum der Literarizität war, war die Schrift im Wachen die bindende Form unseres Ichverständnisses, unseres Gesellschaftsvertrags, unserer Vorstellungen von Öffentlichkeit, Menschenrecht, Politik. Die Konsequenz des Verlusts dieser Form von Literarizität könnte noch verheerender sein, als wir momentan schon befürchten.

„Wie kamen Sie zur Altphilologie?“, frage ich Professor Landfester. „Das hatte nur bildungsgeschichtliche Gründe“, sagt er. „Ich komme aus dem Münsterland und habe sehr stark miterlebt, wie man in den fünfziger Jahren noch mal mit aller Energie versucht hat, eine Wertewelt aufrechtzuerhalten der antiken Bildung, des Humanismus, sozusagen als Rettungsanker gegen die kommunistische Barbarei. In diesem Milieu bin ich groß geworden.“ „Sie sind 1937 geboren.“ „Ja. Wobei das Personal dieser Restauration des Humanismus nach dem Krieg natürlich dasselbe Personal war, das schon in den dreißiger und vierziger Jahren tätig war. Das machte das damals auch schnell unglaubwürdig.“ „Es verschwindet, womit Sie Ihr ganzes Leben verbracht haben.“ „Nicht zwingend. Ich empfinde keine Trauer darüber, dass andere nicht mitmachen, was ich tue. Dass wir nicht auf der Erfolgsspur sind.“ Schon sei das Altgriechische beinahe verschwunden. „In Hessen sind es etwa 600 Schüler, die es noch lernen. Die Quote liegt bei anderthalb Prozent eines Abiturjahrgangs.“

Seite 5: Der Leser erlebt seine eigene Endlichkeit

„Und? Was sagen Sie Ihren Studenten? Warum sollen sie heute Griechisch lernen?“ Landfester überlegt lange und spricht dann so leise, als wäre ihm nur allzu bewusst und daher auch ein wenig peinlich, wie unzeitgemäß klingt, was er dann doch sagt: „Im griechischen Denken ist von Anfang an immer wieder alles infrage gestellt worden. Radikalität des Denkens zeigt sich aber in der Sprache. Es gibt in keiner mir bekannten Literatur eine solche Radikalität wie im Griechischen. Und je mehr die griechischen Texte im Mittelpunkt standen, umso stärker ist auch das Denken der Neuzeit radikal gewesen.“

Vielleicht, weil ihm das Schweigen nach diesem Satz unangenehm ist, nimmt Professor Landfester jetzt endlich eine der Glasplatten aus dem deckenhohen dunklen Sammlungsschrank, der noch immer offen steht, und zeigt mir ein handtellergroßes, ausgefranstes Stück Papyrus. Es sei das Fragment des Briefes einer Sklavin, erklärt er und fährt mit dem Finger die Buchstaben entlang, mit denen die Frau ihre Sorge ausdrückte, ob es ihrem Herrn gutgehe. Auch die Anschrift des Adressaten findet sich auf dem Fetzen, der irgendwann begraben wurde vom Sand und wiedergefunden in den Ruinen einer Lehmziegelsiedlung am Nil wie Abertausende andere Überreste dieses Schreibstoffs auch, von winzigen Bruchstücken, auf deren dünnem Gewebe die letzten Reste der uralten Tinte fast verschwinden, bis zu foliogroßen Abschriften kaiserlicher Edikte. Kaum Literatur, leider, vor allem Rechnungen, buchhalterische Aufzeichnungen, Dekrete, Brieffragmente, und vor allem die immer selben Texte, endlose Abschriften von Schülern, alle geborgen aus jener schmalen Zone, die zufällig weder die Winde aus der Wüste noch die jährlichen Überschwemmungen des Nils erreichten.

Es bleibt das Wort immer analog, denke ich, während ich den Papyrusfetzen betrachte und darauf die verblassende Schrift. Galltinte, nicht wahr? Gerbsäure, Wasser, Kupfer- und Eisensulfat. Was ich meine: Die Unterscheidung von analog und digital trifft nicht den Kern von Sprache. Verändert bei der Digitalisierung von Tönen oder Bildern sich stets etwas substanziell, so berührt sie das Entscheidende an der Sprache nicht, weil der Übersetzungsprozess immer schon zu ihr gehört. Jedes Wort wird von uns übersetzt in eine innere Präsenz. Und diese Übersetzung gleicht einem operativen Eingriff, sie trepaniert den Schädel des Lesers, indem sie sich seiner Vermögen und vor allem seiner Mängel bedient, denn mit ihren Metaphern und Metonymien und mit ihren Paradoxa zielt sie auf Überforderung ab und damit paradoxerweise auf Schöpfung. Gerade in der Erfahrung der Unerschöpflichkeit eines literarischen Werkes, das doch immer ein endliches bleibt, erlebt der Leser seine eigene Endlichkeit, die ja nur dadurch unerträglich ist, dass uns die Empfindung der Unendlichkeit eingegeben ist.

Die Unendlichkeit des digitalen Raumes ist lügenhaft darin, dass er diese Sterblichkeit zu überwinden behauptet, sie aber tatsächlich nur leugnen kann. All die Texte, die von vornherein ihren Platz in einem Netz des Gesprächs und im Gespräch des Netzes haben und finden, sind der mediale Sand, in dem die Papyrii der Literatur vergraben werden. Doch auch aus diesem Sand wird man einmal ihre verrotteten Reste wieder hervorziehen. Und auch dann wird es wieder jemanden geben, der an diesen Resten von Lebendigkeit sich wärmen wird als der Glut des Humanums, das letztlich nichts anderes ist als die Sehnsucht, das Ewige zu denken in einem sterblichen Körper, wahrhaftig zu sein und autonom in einer Welt, die diese Autonomie zu jeder Stunde bedroht.

Professor Landfester stellt die Glasplatte zurück und zieht eine andere heraus. Das sei, erklärt er, der Überrest der Schreibübung eines ägyptischen Kindes. Er übersetzt: „Homer ist kein Mensch. Homer ist ein Gott.“ Vorstellbar, dass wir nicht mehr wüssten, wer Homer war. Und unvorstellbar zugleich. Wir wären andere. Noch aber leben wir in derselben Welt mit jenem Kind am Nil, das vor mehr als 2000 Jahren mit einem Schreibrohr und Galltinte erste griechische Buchstaben auf ein Stück Papyrus malte. Nicht nur schreiben lernte es so mit Homer, sondern: mit uns zu sprechen. Und wir hören ihm zu. Die Fragilität dieses Gesprächs ist das Wunder der Schrift.

Der Text ist ein Vorabdruck aus Thomas Hettches neuem Essayband „Totenberg“, der im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist und 18,99 Euro kostet.

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